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16. Juni 2016, von Michael Schöfer
Ehrendoktorwürde


Also, ich bin ja echt froh, dass ich in Deutschland lebe. Und das auch noch anno 2016. In Deutschland hat nämlich alles seine Ordnung. Selbst wenn die Welt zugrunde geht, wir halten uns an unsere Prinzipien. Etwa an die, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln sind. Man stelle sich vor, in Deutschland würde Willkür herrschen. Nicht auszudenken. Hatten wir ja mal vor ein paar Jahrzehnten. Aber zum Glück haben wir dazugelernt. Heute gilt: Keine Lügen, keine Doppelmoral. Fast wie im Paradies.

Deshalb ist es vollkommen in Ordnung, wenn die Universität Rostock dem Whistleblower Edward Snowden die Ehrendoktorwürde vorenthalten darf, denn die ist an eine hervorragende oder besondere wissenschaftliche Leistung geknüpft. Sagt zumindest das Verwaltungsgericht Schwerin. Die Philosophische Fakultät der Universität habe "die beabsichtigte Ehrendoktorwürde auch mit der gesellschaftlichen und politischen Bedeutung von Snowdens Enthüllungen begründet und damit versucht, den rechtlichen Rahmen unzulässig auszuweiten". [1] Politische Bedeutung als Grund für einen Ehrendoktor? Lachhaft! Oder etwa nicht?

2007 erhielt der kürzlich verstorbene Altkanzler Helmut Schmidt die Ehrendoktorwürde der Philipps-Universität in Marburg: "Der Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Philosophie der Philipps-Universität Marburg verleiht Herrn Helmut Schmidt, Altbundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, die Würde eines Doktors der Philosophie ehrenhalber. Das der Aufklärung verpflichtete Fach Philosophie erkennt in Helmut Schmidt den Philosophen im Politiker. Sein Handeln zeigt eine sichere Orientierung an den Prinzipien unabhängigen Vernunftgebrauchs, moralischer Selbstverpflichtung, kritisch rationaler Situationsbeurteilung und pragmatischer Ausrichtung an der Reichweite menschlicher Vernunft und politischen Handelns. Sein unermüdliches Plädoyer für Vernunft und Verantwortung im Handeln lassen, wo die akademische Philosophie theoretisch bleibt, Philosophie für die Menschen praktisch werden." [2]

Der Philosoph im Politiker. Aha! Wahrscheinlich sprechen dafür Äußerungen wie "Natürlich hat Kernkraft ihre Risiken. Es gibt aber keine Energie und nichts auf der Welt ohne Risiken, nicht einmal die Liebe" oder "Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen". Wirklich ausgesprochen philosophisch. Wer da keine hervorragende bzw. besondere wissenschaftliche Leistung erkennt, hat vermutlich Tomaten auf den Augen. Der Ehrendoktor für "Schmidt Schnauze" war absolut gerechtfertigt. Im Gegensatz zu dem für Edward Snowden, den ja manche immer noch für einen Verräter halten. Ob Schmidt bei der Verleihung eine seiner nicht weniger berühmten Menthol-Zigaretten geraucht hat, ist bedauerlicherweise nicht überliefert, aber sehr wahrscheinlich. Der Altkanzler war schließlich auch auf dem Gebiet der Krebsforschung wissenschaftlich tätig. Und das nahezu pausenlos, wie wir wissen.

Mit dem Dr. h.c. (doctor honoris causa, Doktor ehrenhalber) darf sich auch Angela Merkel schmücken, dafür hat die Universität Leipzig gesorgt. "Für ihre Verdienste um das Fachgebiet Physik und seine Reputation bei ihrem Einsatz für den Schutz der Umwelt, der Demokratie und der Menschenrechte", hieß es. [3] Physik und Menschenrechte sind bekanntlich untrennbar miteinander verbunden. Gerhard Schröder bekam den Ehrendoktor von der Georg-August-Universität in Göttingen, und zwar von der dortigen mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakultät. Dass er ihn für seine Leistungen beim Umbau des Sozialstaats erhalten hat (Hartz IV, Rentenkürzungen, Ausweitung des Niedriglohnsektors etc.), ist lediglich ein böswilliges Gerücht. Vermutlich konnte der Jurist Schröder eben schon immer gut rechnen.

"Die Berliner Humboldt-Universität ehrte das Künstlerehepaar Christo und Jeanne-Claude für ihre Verhüllung des Reichstags und Marcel Reich-Ranicki für seine jahrzehntelangen Verdienste in der Literaturkritik. (…) Die Technische Universität Berlin vergab in einem Jahr (2004) gleich vier Mal Ehrendoktorate an Vorstandschefs deutscher Dax-Konzerne." [4] Wolfgang Schäuble wiederum ist Ehrendoktor der Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften der Eberhard Karls Universität in Tübingen. Übrigens für seine Verdienste um den Sport, erstaunlicherweise nicht für seine bahnbrechenden sozial- und verhaltenswissenschaftlichen Experimente bei der Griechenland-Rettung. Sogar Franz Beckenbauer hat einen Dr. h.c., allerdings bloß von der Nationalen Sportakademie in Sofia/Bulgarien. Nun ja, im Osten gab man sich von jeher mit geringeren intellektuellen Ansprüchen zufrieden.

Die Menschen lassen sich gerne von billigem Tand blenden. Und Ehrungen schmeicheln dem Ego, wer wäre da nicht anfällig? Selbst hochgestellte Persönlichkeiten, die sich von jeder Auszeichnung aufs Neue begeistert zeigen müssen. Die Liste der Ehrendoktoren ist ebenso lang wie deren Begründungen beliebig sind. Oder sagen wir: originell. Kaum ein Spitzenpolitiker blieb bislang ungeehrt. Lässliche Sünden, gewiss, weil genaugenommen keine wissenschaftlichen Leistungen vorlagen. Aber zum Glück sind wir bei Edward Snowden endlich einmal prinzipientreu geblieben. Ach, ich bin echt froh, dass ich in Deutschland lebe. Keine Lügen, keine Doppelmoral. Fast wie im Paradies.

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[1] Spiegel-Online vom 15.06.2016
[2] Philipps-Universität vom 27.02.2007
[3] Wikipedia, Angela Merkel
[4] Die Zeit-Online vom 20.04.2011