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18. Juni 2016, von Michael Schöfer
Olympische Spiele? Interessiert mich nicht mehr!


Der Sport könnte so schön sein, wenn es keine Hooligans, korrupte Sportfunktionäre und dopende Sportler gäbe. Zwar lagen beim Sport Licht und Schatten schon immer nah beieinander, aber jetzt hat die dunkle Seite ein Ausmaß angenommen, das für den Spitzensport existenzbedrohend ist.

Der Weltleichtathletikverband IAAF, gegen dessen Funktionäre Vorwürfe wegen Korruption und Vetternwirtschaft erhoben wurden, hat die Doping-Sperren der russischen Leichtathleten verlängert. Schließt sich dem das Internationale Olympische Komitee (IOC) an, finden die Sommerspiele in Rio (5. bis 21. August 2016) ohne die Beteiligung russischer Leichtathleten statt. Schenkt man dem Bericht der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) Glauben, konnten in Russland "zwischen dem 15. Februar und 29. Mai insgesamt 736 geplante Dopingkontrollen aus verschiedenen Gründen nicht durchgeführt werden". Dopingkontrolleure seien dort "von Athleten massiv behindert und von Beamten des russischen Geheimdienstes FSB eingeschüchtert worden". Athleten hätten "als Aufenthaltsort oft militärische Einrichtungen angegeben, zu denen man aber nur mit einer Sondergenehmigung den Zutritt erhält". Der russische Zoll habe überdies Pakete mit Dopingproben manipuliert. [1]

Russland bestreitet natürlich systematisches Doping und spricht lediglich von falschem Verhalten einzelner Sportler, Trainer und Spezialisten. Dem Sportministerium zufolge seien alle Bedingungen der IAAF erfüllt worden. Der russische Präsident Wladimir Putin bezeichnet den Ausschluss russischer Leichtathleten von der Olympiade als unfair, dies sei "eine Verletzung aller Rechtsgrundsätze". Er leugnet jegliche staatliche Unterstützung des Dopings: "Von staatlicher Seite haben wir gegen Doping im Sport gekämpft und werden das auch in Zukunft tun." [2] Doch auch bei der Winterolympiade im russischen Sotschi (7. bis 23. Februar 2014) soll es zu gezielten Manipulationen gekommen sein. Das behauptet jedenfalls der frühere Leiter des russischen Doping-Kontroll-Labors, Grigory Rodchenkov, der mittlerweile in die USA geflüchtet ist. Russische Anti-Doping-Experten und Geheimdienst-Mitarbeiter hätten "während der Spiele die Urin-Proben der Athleten im Anti-Doping-Labor mit sauberen, Monaten zuvor abgegebenen Proben vertauscht. Dazu habe es ein 'Schatten-Labor' gegeben. Die Behälter mit dem Urin seien jede Nacht über Stunden durch ein kleines Loch in der Wand ausgetauscht worden." [3] 15 russische Medaillengewinner seien gedopt gewesen. [4] Das wäre immerhin knapp die Hälfte der mit Gold, Silber oder Bronze bedachten Russen.

Nun ist das Image Russlands seit der völkerrechtswidrigen Okkupation der Krim und der Unterstützung von Separatisten in der Ost-Ukraine denkbar schlecht. Da passen die russischen Hooligans, die sich bei der Fußball-EM in Marseille mit englischen Hooligans geprügelt haben, haargenau ins Bild: primitiv, gewalttätig, verlogen. Der russische Parlaments-Vizepräsident Igor Lebedew hat die Ausschreitungen sogar noch verteidigt. "Ich kann nichts Schlimmes an kämpfenden Fans finden. Im Gegenteil, gut gemacht Jungs. Weiter so!", schrieb er auf Twitter. [5] Doch die Welt ist nicht so einfach gestrickt, sie lässt sich kaum fein säuberlich in Gut und Böse aufteilen. Genauso wie die verabredungswidrige Osterweiterung der Nato ihren Teil zum aktuellen Konflikt mit Russland beigetragen hat [6], sind auch westliche Sportler keineswegs sauber. Doping gibt es nämlich nicht bloß in Putins Reich. Die Welt ist demzufolge weder weiß noch schwarz, sondern grau.

Mittlerweile stehen sechs von 13 Starterinnen des 1500m-Frauen-Finales bei der Olympiade in London unter Dopingverdacht, der Goldmedaillengewinnerin Asli Cakir Alptekin hat man nachträglich den Sieg aberkannt. Die Türkin wurde im August 2015 wegen Dopings für acht Jahre gesperrt, ihre Ergebnisse sind rückwirkend ab Juli 2010 annulliert, darunter u.a. ihr Sieg bei den Europameisterschaften 2012 in Helsinki sowie der dritte Platz bei den Hallenweltmeisterschaften 2012 in Istanbul. Das "dreckigste Rennen der Leichtathletik" belegt, dass Doping ein globales Problem ist.

Der amerikanische Sprinter Justin Gatlin wurde seit 2001 mehrfach des Dopings überführt und war deshalb zeitweise gesperrt. Seine Erfolge: Bei der Olympiade 2004 in Athen Goldmedaille über 100m, Silbermedaille mit der 4x100m-Staffel, Bronzemedaille über 200m. Bei der Olympiade 2012 in London Bronzemedaille über 100m. Bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften 2005 in Helsinki Gold über 100m und 200m, 2013 in Moskau Silber über 100m und mit der 4x100m-Staffel, 2015 in Peking Silber über 100m und 200m. Es bleibt dem geneigten Leser überlassen, diese Erfolge einzuordnen. Gatlins Landsmann Tyson Gay wurde ebenfalls des Dopings überführt. Bei der Olympiade in London wurde er über 100m Vierter, seine dort mit der 4x100m-Staffel gewonnene Silbermedaille wurde ihm nachträglich aberkannt. Die drei Goldmedaillen von der WM 2007 in Osaka (100m, 200m, 4x100m) sowie die Silbermedaille von der WM 2009 in Berlin (100m) durfte er behalten. Und der Clou: Bei der Staffel-Weltmeisterschaft 2015 in Nassau gewann er erneut Gold über 4x100m. Mit dabei in der Siegerstaffel: Kollege Justin Gatlin.

Tyson Gay ist über 100m mit 9,69 Sekunden der zweitschnellste Sprinter der Leichtathletik-Geschichte, Justin Gatlin liegt mit 9,74 Sekunden auf dem fünften Platz der ewigen Bestenliste. Der drittschnellste Läufer, Yohan Blake (Jamaika) (9,69 Sekunden), wurde 2009 positiv getestet und für drei Monate gesperrt. Der Viertschnellste, Asafa Powell (Jamaika) (9,72 Sekunden), wurde 2013 positiv getestet und für 18 Monate gesperrt (Sperre später auf sechs Monate reduziert). Von den ersten Fünf gilt bislang nur Weltrekordhalter Usain Bolt (Jamaika) (9,58 Sekunden) als absolut sauber.

Wikipedia listet in der Kategorie "Dopingfall in der Leichtathletik" insgesamt 508 Namen auf. Darunter fallen Leichtathleten oder Leichtathletinnen, die von einem internationalen oder nationalen Sportverband wegen Dopings gesperrt wurden, die öffentlich Doping zugegeben haben, und Personen in Verbindung mit der Leichtathletik, die von einem Gericht wegen des Besitzes von Dopingsubstanzen verurteilt wurden. Doch nicht nur die Leichtathletik ist betroffen, in der freien Enzyklopädie sind in 35 Sportarten Dopingfälle verzeichnet, insgesamt waren danach 1.989 Personen in Doping involviert.

Bis dato funktioniert das Ganze: Die Zuschauer strömen trotz allem zu den Großereignissen, die Sender zahlen horrende Lizenzgebühren für die Übertragungsrechte und die Hersteller schmücken ihre Produkte gerne mit erfolgreichen Sportlern. Doch wie lange noch? Kann sich jemand, der demnächst am Fernseher die Spiele in Rio mitverfolgt, überhaupt noch über die dort gezeigten Leistungen freuen? Das fällt immer schwerer, denn neuerdings schwingt stets der Dopingverdacht unausgesprochen im Hinterkopf mit. Daran ändert auch der Ausschluss der russischen Mannschaft nicht allzu viel, denn damit wird lediglich der spektakulärste Dopingfall der jüngeren Geschichte aufgearbeitet. Ich plädiere nicht für eine Teilnahme Russlands, ich sage vielmehr, dass inzwischen der gesamte Sport zur Disposition steht, weil er jede Glaubwürdigkeit eingebüßt hat. Am schlimmsten trifft es natürlich die Sportler, die nachweislich sauber sind, aber dennoch unter dem Generalverdacht leiden.

Beim Sport ist es wie in allen übrigen Bereichen, ob in der Wirtschaft oder in der Politik. Dort, wo es viel zu gewinnen gibt, in erster Linie materiell, dominiert ein Geflecht aus Lüge, Korruption und Betrug. Die Verhältnisse spülen offenbar viele skrupellose Gestalten nach oben, denen nichts heilig ist - ihre eigene Person selbstverständlich ausgenommen. Blender, Intriganten und selbstherrliche Gockel triumphieren. Natürlich ist es ein bisschen naiv, sich auf die ehernen Grundsätze des Amateursports ("dabei sein ist alles") zurückbesinnen zu wollen. Avery Brundage, der legendäre fünfte Präsident des IOC (von 1952 bis 1972), galt als unnachgiebiger Verfechter des Amateursports. Den Profisport definierte er nicht ganz zu Unrecht als Teil der Unterhaltungsindustrie. Gedopt wurde aber auch schon damals, nur vielleicht etwas weniger häufig und weniger ausgefeilt. Doch der Sport läuft Gefahr, sich selbst zu zerstören, wenn er die grassierende Doping-Pest nicht in den Griff bekommt.

Es fällt auf, dass die Kontrollmechanismen der Sportverbände vollkommen unzulänglich sind. Grund hierfür sind die bestehenden Interessenkonflikte. "Craig Reedie, der seit 2013 die Wada leitet, ist gleichzeitig Vizepräsident des IOC, also Teil jenes Geschäfts, das er mit seiner Agentur durchleuchten soll. Da hält die olympische Familie im Zweifel lieber zusammen", kommentiert die Süddeutsche Zeitung. [7] Es muss daher eine wirklich unabhängige Kontrollinstanz geben, folgert das Blatt. Absolut richtig. Und wenn, wie in Russland, Staaten deren Arbeit behindern, muss man sie eben solange von Sportereignissen ausschließen. Wer halbwegs saubere Wettkämpfe will (von vollständig sauberen wage ich in diesem Zusammenhang gar nicht mehr zu sprechen), dem bleibt keine andere Wahl. Das ist unschön, aber notwendig. Nur wenn systematisches Doping mit der Höchststrafe, dem Ausschluss der ganzen Nation, bestraft wird, ändert sich möglicherweise etwas zum Guten. Andernfalls droht dem Sport das Ausbleiben von Zuschauern und demzufolge von Einnahmen, ohne die er so nicht weiterexistieren kann.

Olympische Spiele in Rio? Mir ist jedenfalls die Lust darauf gehörig vergangen. Sollte sich nämlich im Nachhinein durch die Analyse der Urin- oder Blutproben herausstellen, dass etliche Olympiasieger gedopt waren, verliert man daran den ganzen Spaß. Und wenn man sich das bereits im Vorfeld von Spielen ausmalen kann, weil es entsprechende Fälle der Vergangenheit nahelegen, ist einem die Zeit vor dem Fernsehgerät viel zu schade. Tour de France (die rollende Apotheke)? Schaue ich mir schon seit Jahren nicht mehr an. Olympische Spiele? Nur noch gelegentlich (und in abnehmendem Maße). Leichtathletik-WM? Ach, bleiben Sie mir doch damit vom Leibe. Es interessiert mich einfach nicht mehr. Sollen sich doch die Athleten einen anderen suchen, der ihnen dabei zusieht. Einen, dem Doping egal ist.

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[1] Süddeutsche vom 15.06.2016
[2] Die Zeit-Online vom 18.06.2016
[3] Focus-Online vom 13.05.2016
[4] New York Times vom 12.05.2016
[5] Süddeutsche vom 13.06.2016
[6] siehe Ex-General Naumann betreibt Geschichtsklitterung vom 30.03.2014
[7] Süddeutsche vom 16.06.2016


Nachtrag (24.06.2016):
Focus-Online titelt im unter Fußnote Nr. 3 genannten Artikel: "Winterspiele in Sotschi: Insider: 15 russische Goldmedaillengewinner waren gedopt." Nun ist das objektiv betrachtet falsch, da die Russen in Sotschi insgesamt bloß 13 Goldmedaillengewinner hatten. [8] Die New York Times (siehe Fußnote Nr. 4), auf die sich Focus-Online beruft, spricht denn auch nur von "15 medal winners", also von 15 Medaillengewinnern (ohne "Gold"). Ich habe die Redaktion von Focus-Online am 18.06. auf den Fehler aufmerksam gemacht. Reaktion erfolgte bis dato keine. Offenbar machen sich Goldmedaillengewinner im Titel besser. Klingt ja auch viel reißerischer.

[8] Wikipedia, Medaillenspiegel der Olympischen Winterspiele 2014

Nachtrag (12.07.2016):
Justin Gatlin ist wieder in bestechender Form: Bei den US-Trials, der Qualifikation der US-Athleten für die Olympiade, zog der immerhin schon 34-Jährige über 100m mit der Jahresweltbestleistung von 9,80 Sekunden seine Fahrkarte nach Rio. Gatlin siegte auch über 200m in starken 19,75 Sekunden (nur ein Hundertstel über der diesjährigen Jahresweltbestleistung von LaShawn Merritt). Tyson Gay, der im August ebenfalls 34 Jahre alt wird, darf in Rio in der Staffel starten.