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24. Juni 2016, von Michael Schöfer
They did it


Sie haben es tatsächlich getan: Die Briten wollen die EU verlassen. Nach Auszählung aller 382 Wahlbezirke hat das Leave-Lager mit 17,4 Mio. Stimmen (= 51,9 %) gegen das Remain-Lager mit 16,1 Mio. Stimmen (= 48,1 %) gewonnen. [1] 1,3 Mio. Stimmen mehr für den Brexit, das hatte in dieser Deutlichkeit keiner vorhergesagt. Selbst UKIP-Chef Nigel Farage erwartete kurz nach Schließung der Wahllokale um 23 Uhr MESZ einen Sieg des Remain-Lagers um Premier David Cameron. Letzterer hat eine schwere Niederlage erlitten und geht jetzt als der Premierminister in die Geschichtsbücher ein, in dessen Amtszeit Großbritannien aus der EU ausgetreten ist. Möglicherweise, Stichwort Schottland, führt das Ganze sogar zur Spaltung des Königreiches, in Schottland haben nämlich alle Wahlbezirke ausnahmslos für den Verbleib in der EU gestimmt. Cameron, der bereits seinen Rücktritt angekündigt hat, scheidet als begossener Pudel aus dem Amt.

Die Achterbahnfahrt der Gefühle kann man am britischen Pfund ablesen: Kurz nach Schließung der Wahllokale, als Umfragen einen Sieg des Remain-Lagers erwarten ließen, stieg die Landeswährung auf 1,50 US-Dollar. Nun ist das Pfund mit 1,35 Dollar auf ein 31-Jahres-Tief gefallen. Die Börsen gingen bei der Eröffnung am heutigen Freitag prompt ins Minus. Ob allerdings die düsteren Prophezeiungen eines bevorstehenden ökonomischen Niedergangs Großbritanniens wirklich wahr werden, bleibt abzuwarten.

Für die Europäische Gemeinschaft ist das Referendum ein Schlag ins Kontor. Die EU könnte demnächst weiter schrumpfen, die Rechtspopulisten Geert Wilders (Niederlande) und Marine Le Pen (Frankreich) fordern in ihren Ländern ebenfalls ein Referendum über den Austritt aus der EU. Wilders kündigte auf seiner Website an: "If I become prime minister, there will be a referendum in the Netherlands on leaving the European Union as well. Let the Dutch people decide." (Wenn ich Premierminister werde, wird es auch in den Niederlanden ein Referendum über den Austritt aus der EU geben. Lasst das niederländische Volk entscheiden.) 2017 wird sowohl in den Niederlanden (Parlament) als auch in Frankreich (Staatspräsident) gewählt. Und momentan liegt die PVV von Wilders in den Umfragen deutlich vorne. Auch Marine Le Pen steht derzeit auf Platz 1. Ein vollständiges Zerbrechen der EU ist deshalb kein unrealistisches Szenario mehr, denn ein Europa ohne das deutsch-französische Duo ist im Grunde ein Ding der Unmöglichkeit.

Man muss, egal wo man politisch steht, konstatieren: Das Europa der Eliten mit seinen eklatanten Demokratiedefiziten ist gescheitert. Wählerbeschimpfungen, SZ-Redakteur Stefan Kornelius: "Großbritannien macht sich zum Gespött der Welt" [2], helfen da kaum weiter. Im Gegenteil, das Referendum ist ungeachtet des Ausgangs, den man zugegebenermaßen unterschiedlich bewerten kann, ein Gewinn für die Demokratie. Das Volk ist bekanntlich der oberste Souverän und hat dann gefälligst auch die Folgen der eigenen Entscheidung auszubaden.

Die Lebenswirklichkeit von abgehobenen Politikern und gutbezahlten Journalisten unterscheidet sich offenbar erheblich von der Lebenswirklichkeit der so gut wie überall stark unter Druck stehenden Mittelschicht. Makroökonomische Daten sind das eine, der stagnierende oder gar schrumpfende Lebensstandard der Bevölkerungsmehrheit das andere. Die Mittelschicht, traditionell das Rückgrat der Demokratie, erodiert seit Jahrzehnten. Und hier helfen weder das herablassende Geschwätz der Journalisten noch die üblichen Schönfärbereien der Politiker.

Kornelius hätte bloß einmal in sein eigenes Blatt schauen müssen: "Was in den vergangenen zwölf Monaten gebaut wurde, kann sich die breite Masse nicht leisten. Nur 4,7 Prozent der Mietwohnungen, die private Bauherren in den 20 größten Städten errichtet haben, fallen in das bezahlbare Segment. (…) Als 'bezahlbar' gilt eine Wohnung, wenn ein durchschnittlicher Haushalt höchstens 30 Prozent seines Einkommens für die Kaltmiete zahlen muss." [3] Wohnungsnot im angeblich so wohlhabenden Deutschland. Die Angst vor Hartz IV und Altersarmut sind weitere Stichworte. Aber glücklicherweise werden zum Ausgleich dafür die vermögenden Firmenerben bei der Erbschaftsteuerreform abermals geschont. Wenigstens das. (Achtung: Ironie!) In England ist die Situation ähnlich: Wenn es ums Wohnen geht, können sich die meisten Briten ihre eigene Hauptstadt nicht mehr leisten, weil sie schlicht und ergreifend zu teuer ist. Selbst gutverdienende Mittelschichtangehörige finden in London häufig keinen bezahlbaren Wohnraum mehr. Die Reallöhne sind in den letzten Jahren stark gesunken. Die Arbeitslosenzahl ging zwar zurück, aber ein großer Teil der neuen Jobs wird extrem schlecht bezahlt. Nach Ansicht des Erzbischofs von Canterbury sind ganze Städte und Regionen in einer "scheinbar unentrinnbaren wirtschaftlichen Abwärtsspirale gefangen", die durch Sozialkürzungen verschärft wird. [4] Das vermittelt der Bevölkerung den subjektiven Eindruck, von der EU nicht zu profitieren, selbst wenn es objektiv anders sein sollte, die Lage ohne EU-Mitgliedschaft also noch schlechter wird.

Ich will mehr Europa, ich will die Vereinigten Staaten von Europa. Aber ein demokratisches Europa der Menschen - mit einer vom Volk gewählten EU-Regierung und einem Vollparlament (die EU-Volksvertretung besitzt bislang kein Initiativrecht). Eine soziale Grundausrichtung soll dieses Europa haben, kein neoliberales Wolkenkuckucksheim, in dem es fast nur den Vermögenden richtig gut geht. Wenn man den Brexit jetzt nicht als Alarmsignal versteht, sondern lieber so weitermacht wie bisher, fährt die EU unweigerlich an die Wand. In meinen Augen mit fatalen Folgen. Es muss sich endlich etwas ändern, die Lauheimer-Politik (wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass) führt zu nichts. Höchstens zur Frustration der Bürger und deren Abwendung vom Friedensprojekt der Nachkriegsgeneration. Die Bevölkerung in den bald nur noch 27 Mitgliedstaaten hat schließlich nicht zu Unrecht den Eindruck, dass die Politik in zunehmendem Maße von den wirtschaftsnahen Lobbyisten dominiert wird. Und vor allem, dass dieser Kurs - egal, wie Wahlen ausgehen - von einer schier übermächtigen Koalition der etablierten Parteien immer wieder aufs Neue abgesegnet wird. Nicht missverstehen: Ich halte Rechtspopulisten keineswegs für die Lösung, aber der große Zuspruch, den sie gegenwärtig erleben, hat durchaus Gründe.

Mein Gott, wie schnell das geht: Die EU - vor 15 Jahren noch voller Optimismus, jetzt bereits verbraucht und morsch im Gebälk. Es war falsch, vorrangig auf die Erweiterung zu setzen (allein am 1. Mai 2004 traten zehn Staaten der Europäischen Union bei), eine vorherige Vertiefung der Institutionen wäre wesentlich geschickter gewesen. Es war falsch, den Euro einzuführen, ohne gleichzeitig ein europäisches Finanzministerium zu installieren. Nun haben wir den Salat. Um aus dem Schlamassel herauszukommen, ist vielleicht die Rückbesinnung auf den Gedanken eines gemeinsam vorangehenden Kerneuropas notwendig. Die völlige Auflösung der Gemeinschaft, der Rückfall auf die Ebene der Nationalstaaten, wäre sicherlich verhängnisvoll. Die siebzigjährige Friedensperiode in Europa ist zweifelsohne hauptsächlich der Zusammenarbeit in der EU zu verdanken, ein Zurück zum labilen Staatensystem des 19. Jahrhunderts wäre demzufolge mit enormen Risiken verbunden. Das hatten wir schon einmal - und wollten es eigentlich nie wieder.

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[1] The Guardian, EU referendum
[2] Süddeutsche vom 23.06.2016
[3] Süddeutsche vom 23.06.2016

[4] Die Welt-Online vom 15.04.2015