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17. September 2016, von Michael Schöfer
Die Welt ist nicht so, wie sie uns erscheint


Das Universum besteht nur zu 4,9 Prozent aus dem, was wir als "normale" (sichtbare) Materie bezeichnen. Es besteht vor allem zu 26,8 Prozent aus "Dunkler Materie" und zu 68,3 Prozent aus "Dunkler Energie". Und über die beiden zuletzt genannten Phänomene wissen wir so gut wie nichts - außer dass sie existieren, weil wir deren gravitative Wechselwirkung messen bzw. den abstoßenden Effekt bei der sich beschleunigenden Expansion des Alls beobachten können. Vor kurzem entdeckten Wissenschaftler sogar eine Galaxie, die zu 99,99 Prozent aus der mysteriösen Dunklen Materie bestehen soll. Anders ausgedrückt: Das, was wir von dieser Galaxie sehen, die ungefähr so groß und massereich ist wie unsere Milchstraße, sind lediglich 0,01 Prozent. Verdammt wenig also.

Nun ist es in der Politik manchmal so wie in der Physik - das, was wir sehen, ist nur ein kleiner Teil dessen, was tatsächlich existiert. Beispiel Baden-Württemberg: Im Koalitionsvertrag von Grün-Schwarz versprachen die Regierungsparteien, das Personal in den ehemaligen Gewerbeaufsichtsämtern, bei der Polizei und bei der Justiz aufzustocken. Und sie wollten sogar zusätzliche Lehrerstellen bereitstellen. Von Stellenstreichungen findet sich dort kein Wort (nur auf Seite 11 steht reichlich nebulös etwas über nicht näher definierte "strukturelle Einsparungen"). Das ist, um zur Metapher des Universums zurückzukehren, die sichtbare Materie. Die Dunkle Materie und die Dunkle Energie sind dann die Geheimpapiere, in denen das Gegenteil steht.

Grün-Schwarz will bis 2020 in der Landesverwaltung 5.000 Stellen abbauen, so steht es jedenfalls in einer ungewollt an die Öffentlichkeit gelangten Absprache. [1] Da fühlt man sich als Wähler, gelinde gesagt, veräppelt. Außerdem fragt man sich: Wo sollen denn diese Stellen konkret gestrichen werden? Das Gros des Landespersonals findet sich doch beim Kultus-, Innen- und Justizministerium - mithin gerade in jenen Bereichen, die laut Koalitionsvertrag einen Stellenzuwachs erleben sollten. Der Stellenabbau kann doch dann eigentlich bloß in der Steuerverwaltung oder den Universitäten und Kliniken erfolgen. Bereiche, die einen annähernd so großen Personalkörper haben wie Kultus-, Innen- oder Justizministerium. Die werden sich bestimmt freuen.

Grün-Schwarz war schlecht beraten, den geplanten Stellenabbau geheim halten zu wollen. Was bleibt in unserer Republik schon geheim? Nichts. Es sitzt bekanntlich immer irgendwo einer, der sich über irgendjemand geärgert hat oder dessen Karriereplanung auf ein ebenso unerwartetes wie unerwünschtes Hindernis gestoßen ist. Das Durchstechen von Geheimpapieren ist also eher die Regel als die Ausnahme. Kluge Politiker wissen das. Oder sagen wir, sie sollten es wissen.

Andere hätten anstelle der Regierungsparteien die Ende des Jahres auslaufende Altersteilzeit für Schwerbehinderte im Öffentlichen Dienst nicht nur verlängert, sondern auf alle Beschäftigte ausgedehnt. Und selbstverständlich hätten sie das Ganze dann als große soziale Wohltat verkauft und sich dafür ausgiebig feiern lassen. Was sie geflissentlich verschwiegen hätten, wäre der damit verbundene Stellenabbau gewesen. Vermutlich wären die Koalitionäre mit dieser Taktik wesentlich besser weggekommen, weil es viel weniger auffällt, wenn über die Altersteilzeit ausscheidende Beschäftigte einfach nicht mehr ersetzt werden. Ein schleichender, aber höchst effektiver Prozess (sofern man den Bereichen, die gestärkt werden sollen, gezielt die Wiederbesetzung erlaubt). 5.000 zu streichende Stellen in ein Geheimpapier zu schreiben, ist dagegen - Verzeihung - ziemlich töricht. Letzteres bewirkt nur Unmut, das kann man doch viel eleganter lösen. Manche mögen eine solche Vorgehensweise als zynisch bezeichnen, was sie wahrscheinlich auch ist, aber die Welt ist nun mal nicht so, wie sie uns erscheint respektive erscheinen soll. Beim Universum nicht und, wie dargelegt, auch nicht in der Politik.

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[1] Südwest Presse vom 20.08.2016