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21. Oktober 2016, von Michael Schöfer
Macht die Blockade der Wallonie die EU lächerlich?


"Die südbelgische Wallonie blockiert das CETA-Abkommen zwischen der EU und Kanada. Das ist ihr Recht, aber warum ist der Widerstand erst jetzt so groß?", fragt Karin Bensch vom WDR auf tagesschau.de. [1] Schließlich werde schon seit 2009 über CETA verhandelt, bemängelt sie. In der Wallonie leben 3,6 Mio. Menschen. Dürfen die das, die restlichen 504 Mio. blockieren? "Die kleinen Wallonie verhindert weiter das internationale CETA-Abkommen. 'Es ist absurd'", echauffiert sich Markus Preiß vom ARD-Studio Brüssel. [2] Die EU mache sich lächerlich, meint Elmar Brok, MdEP (CDU). [3] Doch stimmt das wirklich?

Mit Zahlen ist das so eine Sache. Der EU-Mitgliedstaat Malta hat lediglich 430.000 Einwohner (von der Größe her ungefähr in der Mitte zwischen Duisburg und Bochum), darf jedoch, anders als die viel bevölkerungsreichere Wallonie, sogar einen EU-Kommissar stellen. Momentan ist das Karmenu Vella, Kommissar für Umwelt, Maritime Angelegenheiten und Fischerei. Auch Estland (1,32 Mio.), Lettland (1,96 Mio.), Litauen (2,89 Mio.), Slowenien (2,06 Mio.) und Zypern (847.000) haben weniger Einwohner als die Wallonie, genießen aber dennoch die Privilegien eines Mitgliedstaates. Von Luxemburg (576.000) ganz zu schweigen. Das mit den 3,6 Mio. Einwohnern relativiert sich von daher recht schnell.

42 nationale und regionale Parlamente müssen über CETA abstimmen, damit es vollständig in Kraft treten kann. Eine Abstimmung kann entweder Ja oder Nein bedeuten. Ließe man nur ein Ja gelten, könnte man sich den Aufwand sparen. Abstimmungen, deren Ausgang von vornherein feststeht, wären freilich eine Farce. So etwas erwartet man gemeinhin von Russland oder China. Wie heißt es doch so schön: Die EU ist eine (demokratische) Wertegemeinschaft. Ob die Wallonen mit ihrer Ablehnung allein bleiben, muss sich erst noch zeigen. Wenn man die Völker direkt über CETA entscheiden ließe, hätte das Abkommen vermutlich ohnehin keine Chance. Doch wir wissen ja, Referenden sind urdemokratisches Teufelszeug. Und wo kämen wir hin, wenn die Macht tatsächlich in den Händen des Volkes läge? Fahren Sie mal in die Schweiz, dort können Sie die Trümmerlandschaften und die chaotischen Zustände, die Volksabstimmungen hinterlassen, mit eigenen Augen besichtigen. (Achtung: Ironie!)

Man mag das Verhalten der Wallonen beklagen, aber die eigentliche Ursache ist das Demokratiedefizit der EU: Die EU-Kommission, also die EU-Regierung, wird von den Regierungen der Mitgliedstaaten ernannt. Der Einfluss der Wählerinnen und Wähler auf "ihre" europäische Regierung ist somit denkbar gering. Das EU-Parlament wird zwar von den Bürgerinnen und Bürgern gewählt, hat aber kein Initiativrecht, darf also keine eigenen Gesetzentwürfe vorlegen, sondern lediglich über die von der EU-Kommission eingebrachten Gesetzentwürfe befinden. Entsprechend sah das Procedere bei CETA aus: Das Aushandeln fällt in die Kompetenz der Kommission, und die hat die Verhandlungen mit Kanada lange Zeit hinter verschlossenen Türen geführt. Der Vertragstext wurde nämlich erst am 26. September 2014 veröffentlicht. Die Frage von Karin Bensch, warum die Widerstände erst so spät auf den Tisch kommen, erklärt sich damit fast von selbst. Außerdem gab es schon vorher massive Kritik an CETA, nur wusste keiner genau, wie der Vertrag aussieht. ATTAC beispielsweise hat das Freihandelsabkommen schon im Oktober 2013 als inakzeptabel bezeichnet, aber Kritiker wurden damals gerne mit dem Argument abgebügelt, der endgültige Vertragstext liege ja noch nicht vor. [4] Wenn die Bahn zu spät kommt, kann man den Fahrgästen bei Beschwerden wohl kaum entgegnen, sie hätten eben früher einsteigen müssen.

Obendrein spielte man ein perfides Spiel. Keine Angst, hieß es stets, nach der Veröffentlichung könne man über alles reden, dafür bleibe noch genügend Zeit. "Ganz wichtig ist: der Text tritt ja noch nicht in Kraft. Sondern jetzt beginnt das Ratifizierungsverfahren. (...) Da haben wir ausreichend Zeit, mit den Bürgern, mit Verbraucherschutzorganisationen, mit der Industrie, mit Gewerkschaften, mit allen Interessierten darüber zu diskutieren", beschwichtigte etwa MdEP Daniel Caspary (CDU) die Gemüter. [5] "Der eigentliche Text des Abkommens sei fertig verhandelt. Im Rahmen von 'juristischem Feinschliff' könne es lediglich 'geringfügige Klarstellungen' geben", meinte dagegen EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström. [6] Bei den umstrittenen Schiedsgerichten haben sich die EU und Kanada großzügig auf ein paar kosmetische Korrekturen verständigt und dies anschließend als große Errungenschaft verkauft. Eine Nebelkerze.

Bedauerlicherweise sieht exakt so die Demokratie à la EU aus: Erst Geheimverhandlungen, dann bekommt man das Ergebnis nach dem Motto "friss oder stirb" auf den Tisch geknallt. Gäbe es dieses Demokratiedefizit nicht, hätte das Procedere womöglich anders ausgesehen: Verhandlungen mit Unterrichtung der Öffentlichkeit; Vertragsentwürfe, die diskutiert und ggf. geändert werden; Bestätigung durch die nationalen Parlamente (oder ein voll geschäftsfähiges EU-Parlament). Zur Erinnerung: Ursprünglich wollte die EU-Kommission die nationalen Parlamente übergehen, ist jedoch angesichts des öffentlichen Drucks eingeknickt (wenige Tage zuvor stimmten die Briten für den Brexit). Wäre es nach Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker gegangen, hätten die Wallonen gar nicht abstimmen dürfen. Nun, im Nachhinein, ist das Vertrauen natürlich perdu. CETA, im Übrigen TTIP genauso, wurde von Anfang an völlig falsch angepackt.

Und die Bürgerinnen und Bürger? Ach, die stören doch bloß! Kein Wunder, dass die Europäische Union in der Krise ist. "Sollte CETA tatsächlich scheitern, riskiert die EU etwas Wichtiges zu verlieren: Glaubwürdigkeit", schreibt Karin Bensch. Falsch, denn die Glaubwürdigkeit hat die EU schon lange vorher verloren. Es ist vielmehr das "Europa der Eliten", dessen Scheitern sich abzuzeichnen beginnt. Aber offenbar hat man daraus immer noch nicht die entsprechenden Konsequenzen gezogen. Um es noch einmal klipp und klar zu sagen: Freihandel ist weder per se gut noch per se schlecht. Es kommt immer darauf an, was man mit welchem Partner konkret vereinbart. Freihandelsabkommen, die erkennbar negative Auswirkungen für die Mehrheit der Arbeitnehmer aufweisen (das Nordamerikanische Freihandelsabkommen hat in den USA jede Menge Industriearbeiterjobs gekostet), sind allerdings kaum noch durchzusetzen.

Zu Recht: Mitte 2016 waren laut Eurostat in der gesamten EU 21,063 Mio. (= 8,6 %) arbeitslos. [7] Die Arbeitslosenquote in der Wallonie beträgt 13,8 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 26,5 Prozent, in der Region wurden bereits weitere Massenentlassungen angekündigt. [8] Deutschland ist nur scheinbar eine Insel der Seligen, denn auch hierzulande werden 1,5 Mio. Bedürftige von den Tafeln mit Lebensmitteln versorgt.
[9] Durchschnittsverdiener kämpfen in den Ballungsräumen mit horrenden Mieten, und die Mittelschicht hat Angst vor dem Abrutschen in die Armut. Die vom Establishment lange ignorierte Kluft zwischen Arm und Reich zeigt die befürchteten politischen Reaktionen (Vormarsch der Rechtspopulisten). Freihandelsabkommen wie CETA und TTIP sind Teil des Problems, nicht Teil der Lösung. Man muss mit Blindheit geschlagen sein, das nicht zu erkennen.

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[1] tagesschau.de vom 21.10.2016
[2] tagesschau.de vom 21.10.2016
[3] Deutschlandfunk vom 21.10.2016
[4] AITEC & ATTAC France vom 18.10.2013
[5] Deutschlandfunk vom 26.09.2014
[6] taz vom 10.11.2014
[7] Eurostat, Pressemitteilung 163/2016 vom 31. August 2016, PDF-Datei mit 312 kb
[8] Badische Zeitung-Online vom 21.10.2016
[9] Die Tafeln, Zahlen & Fakten