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03. November 2016, von Michael Schöfer
Der Splitter im Auge Chinas


Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel hat sich in China über die Benachteiligung von deutschen Firmen auf dem chinesischen Markt beklagt. "Wir sind ein Land, in dem chinesische Investoren sehr viel investieren aber wir wollen eben auch, dass hier deutsche Automobilindustrie, Chemie, Maschinenbau, Elektrotechnik - all die Firmen die hier sind, auch gute Bedingungen haben", sagte er in Peking. [1] In Deutschland wächst der Unmut über das "Reich der Mitte", deutsche Unternehmen beschweren sich zunehmend über Nachteile. Gabriel fordert daher einen fairen Marktzugang.

China ist für Deutschland ein wichtiger Absatzmarkt, so entfallen beispielsweise 53 Prozent der verkauften VW-Pkw auf den chinesischen Markt. [2] Doch das Land weiß um seine Stärke - und nutzt sie offenbar weidlich aus. Das mag uns ärgern, aber die Chinesen denken bloß genauso zuallererst an sich, wie es die Deutschen ebenfalls tun, schließlich ist die Bundesrepublik seit Jahren mächtig stolz auf ihre Rekordüberschüsse in der Handelsbilanz. Und weil die globale Handelsbilanz stets Null ist, sind die Überschüsse des einen logischerweise die Defizite des anderen. Stört uns das? Nicht im mindesten, denn jeder ist sich selbst der Nächste.

Wir mögen das Verhalten Chinas als unfair bewerten, was es genau besehen auch ist, aber wir haben einst gleichfalls mit Protektionismus begonnen, um unsere im Entstehen befindliche Industrie zu schützen. Zur Erinnerung, das Deutsche Reich im 19. Jahrhundert: "Das am 20. Juli 1879 beschlossene Schutzzollgesetz belegte Eisenerzeugnisse, Holz, Getreide und importiertes Fleisch mit hohen Zöllen. Hauptnutznießer des Schutzzolls war die deutsche Industrie. Das Gesetz hielt die unliebsame Konkurrenz vom Binnenmarkt fern. Zu Hause konnte die Industrie deshalb zu überhöhten Preisen verkaufen und gleichzeitig den Gewinn benutzen, um mithilfe von Dumpingpreisen ihre Ausfuhren in das übrige Europa, das noch den Prinzipien des Freihandels verpflichtet war, zu steigern. Auf diese Weise hat der Übergang zum Schutzzoll zum starken Wachstum der deutschen Wirtschaft nach 1880 beigetragen." [3] Kuriosum am Rande: Der 1887 in England als Abwehrmaßnahme beschlossene Merchandise Marks Act, der auf Waren zwingend die Angabe des Herkunftslandes vorschrieb, war die Geburt des Gütesiegels "Made in Germany".

Heute, aus einer Position der Stärke heraus, bilden wir uns ein, dass Freihandel stets segensreich ist. Dabei kommt es immer auf die Phase an, in der sich ein Land befindet. Gewiss, China hat in den vergangenen Jahrzehnten riesige Fortschritte gemacht, gleichwohl leben dort noch immer rund 70 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze. [4] Die Wirtschaft der Volksrepublik leidet unter strukturellen Problemen und will verständlicherweise weg von der Rolle als Billiglohnproduzent. Bloß die "verlängerte Werkbank" westlicher Unternehmen zu spielen, ist auf Dauer unzureichend und ökonomisch eine Sackgasse. Natürlich soll es in der Weltwirtschaft fair zugehen, doch behandeln wir selbst unsere Handelspartner immer fair? Kritiker behaupten etwa, die Economic Partnership Agreement (EPA) mit Afrika würden dort die Armut sogar vergrößern. Der für Ostafrika zuständige UN-Wirtschaftsexperte Andrew Mold: "Die afrikanischen Länder können mit einer Wirtschaft wie der Deutschen nicht konkurrieren. Das führt dazu, dass durch den Freihandel und die EU-Importe bestehende Industrien gefährdet werden und zukünftige Industrien gar nicht erst entstehen, weil sie dem Wettbewerb mit der EU ausgesetzt sind." [5]

Wie wir unsererseits Schwächere zu behandeln pflegen, zeigt dies: Die EU hat "bei den WPA-Verhandlungen über die WTO-Vorgaben hinaus z.B. darauf bestanden, dass die AKP-Staaten in Zukunft keine neuen Ausfuhrzölle und Schutzzölle verabschieden dürfen und sich so den dauerhaften Zugang zu günstigen Rohstoffen gesichert. An Stelle der Politik der Hilfe zur Selbsthilfe folgen die WPA der Logik des Freihandels und setzen darauf, dass die Entwicklung in den AKP-Staaten durch Direkt-Investitionen vorangetrieben wird. (…) Da die Länder Ghana, Elfenbeinküste, Kenia, Botsuana, Namibia und Swasiland bislang noch nicht von dieser Strategie überzeugt werden konnten, will die Europäische Kommission im Juli 2016 die Zugangsprivilegien zum EU-Markt für diese Staaten beenden, um sie zu bewegen bis 1. Oktober 2016 die Partnerschaftsabkommen zu ratifizieren. (…) Im Sommer 2016 'sperren sich nur noch drei von 16 westafrikanischen Ländern gegen die Ratifizierung des Abkommens: Nigeria, Mauretanien und Niger. Die meisten der anderen Länder sind von europäischer Entwicklungshilfe abhängig und haben sich dem Druck längst gebeugt.' Nigerianischen Ökonomen warnen, 'dass EPA unsere Märkte in eine Müllhalde für europäische Produkte verwandeln würde.'" [6]

Daran sehen wir, dass Fairness im Welthandel Interpretationssache ist. Es wäre schön, wenn wir die Rücksichtnahme, die Gabriel uns gegenüber erwartet, anderen ebenfalls zukommen ließen. Deutschland ist einer der größten Profiteure der Globalisierung, aber auch einer der Hauptverantwortlichen für die Ungleichgewichte der Weltwirtschaft. Wenn wir uns nur beklagen, sobald wir benachteiligt werden, andererseits jedoch beim schmutzigen Spiel kräftig mitmischen, solange wir daraus einen Nutzen ziehen, verbreitet das den üblen Geruch der Doppelmoral. Den Splitter im Auge Chinas sehen wir, den Balken in unserem Auge bemerken wir dagegen nicht. Oder vielmehr: Wir wollen ihn nicht bemerken.

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[1] finanztreff.de vom 02.11.2016
[2] heute.de vom 14.10.2016
[3] Academic, Universal-Lexikon, Freihandel: Freihandel gegen Schutzzollpolitik im 19. Jahrhundert
[4] Reuters vom 22.05.2016
[5] SWR, Report/Mainz vom 04.11.2014
[6] Wikipedia, Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, Zur Situation 2016