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18. November 2016, von Michael Schöfer
Nicht bloß Europa kann sterben


Frei nach Peter Struck: Die Demokratie wird nicht am Hindukusch verteidigt, sondern gewissermaßen in unseren eigenen vier Wänden. Die Demokratie wird in den von Deindustrialisierung betroffenen Regionen Europas verteidigt - dort, wo sich Perspektivlosigkeit und Armut breitmachen. In den Pariser Banlieues ebenso wie im Ruhrgebiet oder in der Wallonie. Und genau dort hat das Establishment, das lieber in der Glitzerwelt der Metropolen einen auf Dolce Vita macht, anstatt sich um die Not in den Vororten zu kümmern, kläglich versagt. Im September 2016 lag die Jugendarbeitslosenquote in den 28 Mitgliedstaaten der EU bei 18,2 % (= 4,125 Mio. Menschen im Alter von 15-24 Jahren). In Frankreich (23,9 %), Italien (37,1 %) oder Spanien (42,6 %), um nur einmal die großen Länder zu nennen, droht eine ganze Generation auf der Strecke zu bleiben. [1] Keine Ausbildung, keine Jobs, keine Rente.

1994 habe ich in einem Artikel geschrieben: Die christliche-liberale Bundesregierung entwickelt bei ihrem Anschlag auf den Sozialstaat eine ungeheure Phantasie, "wenn es darum geht, dem Durchschnittsverdiener und den Armen etwas wegzunehmen, während den Reichen das Geld geradezu hinterhergeworfen wird. (…) Nimmt man einem erklecklichen Anteil der Bevölkerung den Anreiz die Demokratie zu unterstützen, indem man den Betroffenen ökonomisch mehr Nachteile als Vorteile verschafft, ist sie (die Demokratie) langfristig nicht zu bewahren. (…) Eine demokratische Gesellschaft ist entweder einigermaßen gerecht, oder sie wird abgelöst durch einen Zustand wachsender Verteilungskämpfe, wobei sich die Kontrahenten auf Dauer wohl kaum an die Regeln der demokratischen Auseinandersetzung halten dürften." [2]

Geholfen hat das natürlich nichts, es sollte vielmehr noch fast fünf Jahre dauern, bis Helmut Kohl, der ewige Kanzler, endlich sein Amt verlor. Ronald Reagan ("der Staat ist nicht die Lösung für unser Problem, der Staat ist das Problem") und Maggie Thatcher ("so etwas wie die Gesellschaft gibt es nicht, es gibt nur einzelne Männer und Frauen und es gibt Familien"), die in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die ökonomische Richtung vorgaben (Reaganomics, Thatcherismus), hatten ganz Arbeit geleistet und die Welt verändert. Aber nicht zum Besseren. Warnungen, dass sich die Benachteiligten ihrem vom Establishment zugedachten Schicksal nicht endlos lange beugen würden, haben die Herrschenden erwartungsgemäß in den Wind geschlagen. "Die vom Schicksal Begünstigten und Privilegierten denken nie in langfristigen Zusammenhängen." (John Kenneth Galbraith)

Ging ja auch eine ganze Weile gut. Doch nun hat die Krise die Demokratie frontal getroffen: Brexit-Referendum, Trump-Wahl, Vormarsch der Rechtspopulisten in Europa - es steht Spitz auf Knopf. "Europa kann sterben", warnt der französische Ministerpräsident Manuel Valls. Die Globalisierung der Wirtschaft produziere Verlierer, beklagt er. [3] Das sagt ausgerechnet Valls, der in Frankreich für die steuerliche Entlastung der Unternehmen und für "Reformen" zum Nachteil der Arbeitnehmer steht (z.B. Verlängerung der Lebensarbeitszeit, Beitragserhöhungen, Ausweitung der Rentenbesteuerung, Senkung der Lohnnebenkosten, Flexibilisierung des Arbeitsmarktes). Nein, die Globalisierung produziert nicht einfach nur Verlierer, sondern zu viele Verlierer. Monsieur Valls, Sie produzieren die Verlierer. Die Sozialisten/Sozialdemokraten, ursprünglich die Vertreter des sogenannten "kleinen Mannes auf der Straße", haben inzwischen die neoliberale Politik ebenfalls übernommen. Die Arbeitnehmer verloren demzufolge ihre politische Heimat. Deshalb gilt: Nicht bloß Europa kann sterben - die Demokratie kann sterben.

Rechtspopulisten und Rechtsextreme halten, sobald sie an der Regierung sind, wenig von der Kontrolle ihrer Macht. Eine unabhängige Justiz und die Freiheit der Presse sind für sie bestenfalls ein notwendiges Übel. Dort, wo ihnen kaum Widerstand begegnet, versuchen sie die Gewaltenteilung auszuhebeln. Am Ende steht dann ein autoritäres Regime, das Wahlen manipuliert und Oppositionelle drangsaliert, um weiterhin an der Macht zu bleiben.

Die Digitalisierung bedrohe weltweit 40 bis 50 Prozent der heute bestehenden Jobs, behauptet Charles-Édouard Bouée, Vorstandsvorsitzender der Unternehmensberatung Roland Berger. [4] Wenn das stimmt und keine adäquaten Ersatzarbeitsplätze entstehen, sind das, was wir heute erleben, nur die Vorboten eines Orkans, der die Demokratie hinwegfegen könnte. Da braucht es schon wesentlich mehr als bloß die Hoffnung auf nicht näher spezifizierte "Chancen der Globalisierung". Die Aussage, irgendwann wird’s auch wieder besser, ist absolut unzureichend. Natürlich soll man einen durch die technische Entwicklung notwendigen Strukturwandel nicht aufhalten, aber er muss sozial abgefedert werden. Meistens geschieht jedoch genau das Gegenteil. Das, was etwa bei uns euphemistisch "Fördern und Fordern" heißt (Hartz IV), erzeugt eine schier unendliche Wut. Die, die höchstwahrscheinlich niemals davon betroffen sind, mögen das aus der akademischen Distanz heraus als noch mit der Menschenwürde in Einklang stehend bewerten. Aber die, die unter solchen Konzepten leiden oder sich von ihnen bedroht fühlen, sehen das naturgemäß ganz anders. Vollkommen zu Recht, wie ich meine.

Die Demokratie, "die Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk" (Abraham Lincoln), steht auf dem Spiel. Das Establishment muss rasch umdenken und konsequent handeln, will es nicht zum Totengräber der offenen Gesellschaft werden. Denn das, was Kritiker seit langem befürchten, droht nun tatsächlich einzutreffen. Es bleibt nicht mehr viel Zeit zum Umsteuern.


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[1] Eurostat, Pressemitteilung 217/2016 vom 3. November 2016, PDF-Datei mit 312 kb
[2] siehe Neoliberalismus, Reichtum und Elite in Deutschland vom 13.01.1994
[3] Süddeutsche (Printausgabe) vom 18.11.2016
[4] Süddeutsche a.a.O.