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24. November 2016, von Michael Schöfer
Das Sein prägt das Bewusstsein


Die "America first"-Strategie von Donald Trump sei verheerend und gehe auf Kosten anderer, liest man allenthalben. Der designierte US-Präsident hat bereits angekündigt, das Handelsabkommen zwischen den USA, Australien, Brunei, Chile, Japan, Kanada, Malaysia, Mexiko, Neuseeland, Peru, Singapur und Vietnam (Trans-Pacific Partnership) gleich am ersten Tag seiner Amtszeit aufzukündigen. Die Süddeutsche erinnert aus diesem Anlass an den Smoot Hawley Act von 1930, mit dem die USA die Zölle für über 20.000 Produkte auf Rekordniveau trieben. Das Gesetz führte mitten in der Wirtschaftskrise zum Zusammenbruch des Welthandels und trug damit zu deren Verschärfung bei. Die politischen Folgen sind gerade in Deutschland hinreichend bekannt. Führt Trump, wie im Wahlkampf angekündigt, tatsächlich höhere Einfuhrzölle für Importe aus China und Mexiko ein, befürchten viele einen protektionistischen Wettlauf, der die Weltwirtschaft ähnlich hart treffen könnte, wie der Smoot Hawley Act zu Beginn der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts.

Natürlich singt man in Deutschland gerne das hohe Lied des Freihandels. Kein Wunder, denn es profitiert ja auch kaum ein Land so von der Globalisierung wie wir (Exportüberschuss 2015: 244 Mrd. €). [1] Trumps Strategie könnte uns folglich schwer schaden, zumal die Vereinigten Staaten unser wichtigster Handelspartner sind. Wir exportierten im vergangenen Jahr in die USA Waren im Wert von 114 Mrd. Euro und importierten von dort Waren im Wert von 60 Mrd. Euro (= ein Überschuss von 54 Mrd. €). [2] Handelsbilanzdefizit? Gab es bei uns zuletzt 1950 und 1951, seitdem war unsere Handelsbilanz ununterbrochen im Plus.

Handelsbilanz Deutschland 1960-2015 (in Mrd. Euro) [3]
1960 2,670 1979 11,467 1998 64,919
1961 3,383 1980 4,575 1999 65,211
1962 1,778 1981 14,173 2000 59,129
1963 3,084 1982 26,218 2001 95,494
1964 3,109 1983 21,520 2002 132,788
1965 0,616 1984 27,592 2003 129,921
1966 4,068 1985 37,505 2004 156,096
1967 8,621 1986 57,581 2005 158,179
1968 9,394 1987 60,198 2006 159,048
1969 7,969 1988 65,468 2007 195,349
1970 8,012 1989 68,808 2008 178,298
1971 8,125 1990 54,902 2009 138,697
1972 10,368 1991 11,197 2010 154,863
1973 16,861 1992 17,117 2011
158,702
1974 25,997 1993 31,645 2012
193,222
1975 19,059 1994 37,640 2013
197,632
1976 17,624 1995 43,615 2014
213,601
1977 19,652 1996 50,382 2015
244,310
1978 21,066 1997 59,548




Ganz anders ist die Situation der USA. Den letzten Handelsbilanzüberschuss erwirtschafteten die Vereinigten Staaten im Jahr 1975 - damals saß ein gewisser Gerald Ford im Weißen Haus. Seitdem reiht sich ein Defizit ans andere. Und es steigt kontinuierlich an. Der Überschuss bei den Dienstleistungen kann das Defizit bei den Waren nicht kompensieren. Und es stellt sich nicht erst seit dem Präsidentschaftswahlkampf 2016 die naheliegende Frage: Wie lange kann das so weitergehen? Die USA sind mittlerweile das Land mit der höchsten Auslandsverschuldung, 2014 lag sie bei schwindelerregenden 17,26 Billionen US-Dollar. [4]

Handelsbilanz USA 1960-2015 (in Mrd. US-Dollar) [5]
1960 4,892 1979 -27,568 1998 -248,221
1961 5,571 1980 -25,500 1999 -337,068
1962 4,521 1981 -28,023 2000 -446,783
1963 5,224 1982 -36,485 2001 -422,370
1964 6,801 1983 -67,102 2002 -475,245
1965 4,951 1984 -112,492 2003 -541,643
1966 3,817 1985 -122,173 2004 -664,766
1967 3,800 1986 -145,081 2005 -782,804
1968 0,635 1987 -159,557 2006 -837,289
1969 0,607 1988 -126,959 2007 -821,196
1970 2,603 1989 -117,749 2008 -832,492
1971 -2,260 1990 -111,037 2009 -509,694
1972 -6,416 1991 -76,937 2010 -648,678
1973 0,911 1992 -96,897 2011
-740,646
1974 -5,505 1993 -132,451 2012
-741,171
1975 8,903 1994 -165,831 2013
-702,244
1976 -9,483 1995 -174,170 2014
-752,169
1977 -31,091 1996 -191,000 2015
-762,565
1978 -33,927 1997 -198,428




Die Strategie von Donald Trump, auf Protektionismus zu setzen, mag schädlich und kontraproduktiv sein (das Ifo-Institut rechnet bei einem mithilfe von Zollschranken ausgetragenen Handelskrieg mit dem Einbruch der US-Wirtschaft um zehn Prozent). Aber wenn der künftige US-Präsident eine ungeeignete Strategie verfolgt, heißt das noch lange nicht, dass es einfach so weitergehen kann wie bisher. Endlos Defizite einfahren können sich nicht einmal die USA erlauben (bislang finanzierte Washington seine Schulden im Wesentlichen durch den Verkauf von amerikanischen Staatsanleihen an die Volksrepublik China und an Japan).

Das Sein prägt das Bewusstsein (Karl Marx). Natürlich würde sich Deutschland freuen, wenn es auch in Zukunft riesige Außenhandelsüberschüsse erwirtschaften könnte. Doch wenn wir uns einmal in die Situation der Amerikaner hineinversetzen, werden wir womöglich verstehen, dass sie uns nicht länger finanzieren wollen respektive können. Der deutsche Exportboom funktioniert schließlich nur, weil sich die amerikanischen Konsumenten bereitwillig verschulden, um Waren "Made in Germany" zu kaufen. Zumal Deutschland obendrein unsolidarisch handelt, weil es sich konsequent weigert, mehr zu investieren und dadurch die Konjunkturlokomotive zu spielen.

Deutschland ist vom Welthandel so abhängig wie noch nie, die Exportquote (der Anteil des Exports am Bruttoinlandsprodukt) betrug 2015 satte 39,4 Prozent (1991 waren es lediglich 21,5 %). [6] Obendrein war die Differenz zwischen Im- und Exporten noch nie so groß, idealerweise sollte das Verhältnis nahezu ausgeglichen sein. Das heißt, Deutschland lebt auf Kosten seiner Handelspartner, weil es wesentlich mehr exportiert als importiert. Und das schon seit langem. "Staaten haben keine Freunde, nur Interessen." (Charles de Gaulle) Was gut ist für Deutschland, ist noch lange nicht gut für die USA. So gesehen ist es durchaus verständlich, wenn die USA ihre eigenen Interessen verfolgen. Jedenfalls sind die amerikanischen Arbeiter bislang bei dieser Form des Freihandels nicht allzu gut weggekommen. Ob Trump ihnen hilft, steht auf einem anderen Blatt.

Die Ansicht, Trumps ökonomische Konzepte wären für die amerikanischen Globalisierungsverlierer eine brauchbare Lösung, wird sich wahrscheinlich rasch als ziemlich töricht entpuppen. Seine kaum miteinander zu vereinbarenden Wahlkampfaussagen (etwa massive Steuersenkungen und zugleich massive Ausgabenerhöhungen) werden wohl an der Realität zerschellen. Es bleibt abzuwarten, was er davon wirklich umzusetzen versucht. Andererseits haben aber auch die bisher regierenden Globalisierungsbefürworter keine adäquate Antwort auf die Frage, wie in den klassischen Industriestaaten wieder mehr soziale Gerechtigkeit einziehen könnte. Überall erodiert die Mittelschicht - und ein Ende ist nicht absehbar.

Die Apologeten des Freihandels verabreichen bloß eine immer stärkere Dosis ihrer neoliberalen Medizin, doch gerade die hat uns ja den Schlamassel erst eingebrockt. Uneinsichtig zimmern sie Freihandelsabkommen wie CETA, TTIP oder TPP zusammen, die konsequent den Bedürfnissen der Bevölkerungsmehrheit widersprechen. Die Eliten, zu denen im Grunde auch der Milliardär Donald Trump gehört, haben kläglich versagt. Umsteuern durch die Umverteilung des Reichtums wäre eine Lösung, aber genau das widerspricht den Interessen des Establishments (mithin auch denen von Trump). Am Ende wird der sogenannte "kleine Mann auf der Straße" abermals der Gelackmeierte sein, weil er Rattenfängern wie Donald Trump auf den Leim gegangen ist. Und ich will mir gar nicht ausmalen was passieren wird, wenn die Menschen dereinst begreifen, erneut enttäuscht worden zu sein.

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[1] Statistisches Bundesamt, Gesamtentwicklung des deutschen Außenhandels ab 1950, PDF-Datei mit 61 kb
[2] Statistisches Bundesamt, Rangfolge der Handelspartner im Außenhandel 2015, PDF-Datei mit 88 kb
[3] Statistisches Bundesamt, Gesamtentwicklung des deutschen Außenhandels ab 1950, PDF-Datei mit 61 kb
[4] Wikipedia, Liste der Länder nach Auslandsverschuldung
[5] United States Census Bureau, Historical Series, U.S. International Trade In Goods and Services, Annual goods (BOP basis), services, and total balance, exports and imports, 1960 - present, Excel-Datei mit 42 kb
[6] Statistisches Bundesamt, Globalisierungsindikatoren, Kennzahlen zur Außenwirtschaft nach dem Außenhandelskonzept