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| Impressum 29. Dezember 2016, von Michael Schöfer Totale Sicherheit gibt es nicht einmal durch totale Videoüberwachung In einem U-Bahnhof in Berlin-Neukölln tritt ein Mann einer Frau auf der Treppe unvermittelt von hinten in den Rücken, sie fällt hinunter und bricht sich den Arm. Der Täter wird nur ermittelt, weil die Polizei das Video der Überwachungskamera veröffentlicht. Vorherige Ermittlungen blieben erfolglos. In einem anderen Berliner U-Bahnhof zünden sieben junge Männer einen auf der Sitzbank schlafenden Obdachlosen an, nach der Veröffentlichung der Videobilder stellen sich sechs der Verdächtigen schon am nächsten Tag selbst, ein weiterer wird von Zielfahndern verhaftet. Die Staatsanwaltschaft erließ Haftbefehl wegen gemeinschaftlich versuchten Mordes. In Freiburg helfen Videoaufzeichnungen in einer Straßenbahn entscheidend bei der Ermittlung eines Sexualmörders. Eine kriminalistische Meisterleistung, die ohne Videoüberwachung aber wohl kaum möglich gewesen wäre. Drei Fälle, die die Diskussion um die Videoüberwachung erneut entfacht haben. Gewiss, die Videoüberwachung kann Verbrechen, wie etwa den Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Berlin nicht verhindern, die präventive Wirkung wird häufig überschätzt, aber sie kann zumindest im Nachhinein entscheidend bei der Aufklärung helfen. Immerhin etwas. Die eigentliche Frage dabei ist, welches Maß an persönlicher Überwachung wir für den Sicherheitsaspekt einzutauschen bereit sind. Deutschland ist keineswegs eine videoüberwachungsfreie Zone. Ganz im Gegenteil: So wird etwa in München der öffentliche Raum von mehr als 9.200 Kameras überwacht. "Allein die Münchner Verkehrsgesellschaft (MVG) und die Deutsche Bahn (DB) als Betreiberin der S-Bahn unterhalten jeweils etwa 4.400 Kameras in Fahrzeugen und Bahnhöfen." [1] In Berlin sind alle U-Bahn-Züge sowie 173 Bahnhöfe videoüberwacht, dazu 86 Prozent der Busse und 64 Prozent der Straßenbahnen. Insgesamt überwachen in Berlin fast 15.000 Kameras den Nahverkehr oder öffentliche Gebäude. [2] "Nach Angaben der Deutschen Bahn sind bundesweit 4.800 Kameras an rund 640 Bahnhöfen installiert. Zudem gibt es 18.000 Videokameras in Regionalzügen und S-Bahnen." [3] Das hat Fälle wie die eingangs erwähnten allerdings nicht verhindert. Das am stärksten mit Überwachungskameras bestückte europäische Land ist Großbritannien. Wen schon in Deutschland Orwellsche Gefühle beschleichen, der glaubt im Vereinigten Königreich endgültig in der Totalüberwachung angekommen zu sein. Genaue Zahlen gibt es nicht, aber Schätzungen zufolge waren dort im Jahr 2013 landesweit vier bis sechs Millionen Überwachungskameras installiert. Tendenz steigend. Inzwischen sind es bestimmt noch mehr. In London gibt es kaum noch einen Ort, der nicht kameraüberwacht ist, für Datenschützer der Alptraum schlechthin. Doch der Nutzen der Videoüberwachung ist umstritten: "In London kam der Metropolitan Police zufolge im Jahr 2008 ein gelöster Fall auf 1.000 Kameras." [4] Eine ziemlich magere Ausbeute. Und anhand der nachfolgenden Fallzahlen kann man die präventive Wirkung der großflächigen Überwachung einschätzen. Das Haushaltsjahr (financial year) der Londoner Metropolitan Police dauert jeweils vom 1. April bis zum 31. März des Folgejahres, ist also nicht mit dem in Deutschland üblichen Kalenderjahr identisch. Hier sehen Sie die Kriminalitätsentwicklung in London zwischen April 2001 und März 2016 [5]:
Das Bild ist uneinheitlich: Während in den vergangenen 15 Jahren Diebstähle um 35,7 Prozent, Einbrüche um 39,9 Prozent und Raubstraftaten sogar um 59,7 Prozent zurückgegangen sind, haben Gewalt- (+ 40,4 %) und Sexualdelikte (+ 63,3 %) dramatisch zugenommen. Aussagekräftiger wäre natürlich jeweils die Häufigkeitszahl (polizeilich registrierte Straftaten je 100.000 Einwohner) gewesen, nach dieser Statistik habe ich freilich auf der Website der Londoner Polizei vergeblich gesucht, deshalb blieben Veränderungen bei der Zahl der Einwohner unberücksichtigt. Ebenso strukturelle Aspekte, wie zum Beispiel Altersstruktur, Bildungsstand oder Einkommensverhältnisse. Parameter, die die Kriminalität aber entscheidend beeinflussen. Die Daten geben somit lediglich einen Anhaltspunkt, spiegeln aber kein detailgetreues Bild wider. Wie auch immer, jedenfalls lässt sich aus den vorliegenden Londoner Zahlen kein Trend pro oder contra Videoüberwachung herauslesen. Die Rückgänge können an der massiven Videoüberwachung liegen, müssen es aber nicht. Und wer Ersteres behauptet, ist dann in der Verlegenheit zu erklären, wieso die gemeinhin besonders beunruhigenden Gewalt- und Sexualdelikte trotz Videoüberwachung zugenommen haben. Das liegt vielleicht an der zunehmenden Verrohung der Gesellschaft oder an einem veränderten Anzeigeverhalten, doch eben nur vielleicht. Das kann man bloß vermuten und bedarf einer genaueren Analyse. Was in der Bundesrepublik zuletzt so große Empörung verursacht hat, die sinnlosen Gewaltdelikte in Berlin und der schreckliche Sexualmord in Freiburg, wären wahrscheinlich in London, wo die Kameradichte viel höher ist, genauso wenig verhindert worden. Andererseits muss man konstatieren, dass diese Straftaten ohne Videoüberwachung möglicherweise ungeklärt geblieben wären. Letztlich ist und bleibt es also eine Abwägung: Welchen Preis sind wir zu zahlen bereit? Wie ist sozusagen das Preis-/Leistungsverhältnis? Wäre eine Videoüberwachung à la London schon bei der Aufklärung eines einzigen Sexualverbrechens gerechtfertigt? Oder erst bei zwanzig Sexualdelikten? Da muss man furchtbar aufpassen, nicht in Zynismus abzugleiten. Und wofür würden wir plädieren, wenn wir selbst von einer Straftat betroffen wären? Ich persönlich bin für eine vorsichtige Ausweitung der Videoüberwachung. Zustände wie in London will ich hier nicht haben, aber die stärkere Überwachung neuralgischer Orte erscheint mir dennoch notwendig. Allerdings ist hoffentlich klar geworden: Die totale Sicherheit gibt es nicht einmal durch eine nahezu totale Videoüberwachung. Wer den Bürgern etwas anderes suggeriert, bewegt sich auf dünnem Eis. ---------- [1] Süddeutsche vom 23.01.2015 [2] Deutsche Welle vom 19.12.2016 [3] n-tv vom 28.05.2015 [4] Deutschlandfunk vom 23.12.2016 [5] Mayor of London, Metropolitan Police, Crime Mapping, Data tables |