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18. Januar 2017, von Michael Schöfer
Helle Aufregung in Mannheim


Die Journalistin Düzen Tekkal hat in der Talk-Show "Anne Will" den Mannheimer Stadtteil "Neckarstadt-West" als "No-Go-Area" bezeichnet. Ihrer Meinung nach sollte man die "Neckarstadt-West" besser meiden. [1] Tekkals Aussagen schlagen hier natürlich hohe Wellen: Die Polizei dementiert, die Stadtverwaltung dementiert, und im hiesigen Lokalblatt kommen Menschen zu Wort, die in besagtem Stadtteil angeblich noch nie Angst hatten. Angst ist jedoch ein subjektiver Eindruck, worüber man also trefflich streiten kann. Die Bewertungen über die "Neckarstadt-West" sind, wie wir weiter unter noch sehen werden, überwiegend negativ.

Dass sich in der "Neckarstadt-West" in den letzten Jahren die Bevölkerungsstruktur dramatisch geändert hat, belegen die offiziellen Zahlen der Stadt Mannheim [2]:


Einwohner ohne Migrations-hintergrund mit Migrations-hintergrund Ausländer
31.12.2013 21.691 8.085 (37,27 %) 13.606 (62,73 %) 9.964 (45,94 %)
31.12.2015 23.438 7.735 (33,00 %) 15.703 (67,00 %) 12.009 (51,24 %)
Veränderung +1.747 (+8,05 %) -350 (-4,33 %) +2.097 (+15,41 %) +2.045 (+20,52 %)

Allein zwischen 2013 und 2015 sind 8 Prozent mehr Einwohner hinzugekommen, darüber hinaus ist der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund und der Anteil der Ausländer überproportional gestiegen. Das hat Folgen, denn es ist kein Geheimnis: Wer es sich leisten kann, zieht aus der "Neckarstadt-West" weg. Manche sehen den Stadtteil deshalb sogar am Kippen.

Die öffentlich zugänglichen Daten über die Kriminalität in Mannheim lassen keine Rückschlüsse auf einzelne Stadtteile zu. Allerdings sind die Straftaten im Stadtgebiet zwischen 2013 und 2015 von 31.975 auf 34.943 gestiegen (+9,28 %). Die Straßenkriminalität (Delikte, die sich in der Öffentlichkeit ereignen) hat im gleichen Zeitraum von 7.430 auf 7.923 zugenommen (+6,64 %). Mannheim lag 2015 bei der Häufigkeitszahl (Straftaten auf jeweils 100.000 Einwohner) in Baden-Württemberg auf dem zweitschlechtesten Platz (Mannheim: 11.654, Landesdurchschnitt: 5.761). [3] Kurzum, die ohnehin hohe Kriminalitätsbelastung hat erheblich zugenommen (Daten aus 2016 liegen noch nicht vor).

Es gibt dennoch ein paar stadtteilspezifische Erkenntnisse: "Der Mannheimer Stadtteil Neckarstadt-West war einst ein stolzes Arbeiterviertel, heute ist er sozialer Brennpunkt mit Menschen aus rund 160 Nationen. Der Rauschgifthandel floriert", schrieb die Badische Zeitung im Juni 2016. "Die Polizeistatistik weist eine Zunahme der Straftaten im Stadtteil um mehr als zehn Prozent aus. Im vergangenen Jahr mussten die Beamten zu rund 16.000 Funkstreifeneinsätzen ausrücken – 3.500 Mal öfter als im Vorjahr." [4] Die Zahlen beruhen auf den Angaben des Leiters des Polizeireviers Mannheim-Neckarstadt.

Eine Studie über das subjektive Sicherheitsgefühl in Mannheim, die vor fünf Jahren von der Stadt Mannheim beim Institut für Kriminologie der Universität Heidelberg in Auftrag gegeben wurde, ergab Folgendes: "Auf die Frage nach Gegenden, in denen sie sich fürchten würden, nennen 59 Prozent der Befragten den Jungbusch, 48 Prozent die Schönau, 43 Prozent die Neckarstadt-West und 39 Prozent die Innenstadt." [5]

Auch der Mannheimer Morgen, der über den aktuellen Aufreger berichtet, schrieb im August 2012: "Neckarstadt-West: Immer mehr Bewohner haben nachts Angst, auf die Straße zu gehen. Ekelimmobilien, Prostitution, Zunahme von Vereinsheimen und bandenmäßiger Kriminalität sind nur einige Schlagworte, die die Bewohner der Neckarstadt mehr als unruhig werden lassen." [6]

Offenbar hat sich die Lage seitdem verschlimmert. Der "Rheinneckarblog" von Hardy Prothmann, der mit Tekkals Aussage ebenfalls unzufrieden ist [7], hat Ende 2016 über die "alarmierenden" Ergebnisse seiner gemeinsam mit Stirvox.com durchgeführten Online-Umfrage zur Sicherheitslage in Mannheim berichtet: "79 Prozent der Teilnehmer haben Angst vor Straßenkriminalität. Die Mehrheit meidet Innenstadt/Jungbusch sowie die Neckarstadt-West." Auf die Frage "Gibt es Stadtbezirke, in denen Sie bestimmte Bereiche meiden? Wenn ja, welche?" gaben 70,60 Prozent "Innenstadt/Jungbusch" und 63,56 Prozent "Neckarstadt-West" an (Mehrfachnennung möglich). [8]

Also doch eine "No-Go-Area"? Ist die Aufregung über Düzen Tekkals Äußerung nicht ein bisschen unaufrichtig, schließlich wiederholt sie lediglich das, was schon seit Jahren andernorts über die "Neckarstadt-West" geschrieben wird? Offenkundig war das nicht falsch. Anscheinend leidet Mannheim unter kollektiver Amnesie, sobald man die Stadt herabgesetzt oder gar beleidigt wähnt. Falsch verstandener Lokalpatriotismus? Überambitionierte political correctness?

Ob man die "Neckarstadt-West" als Stadtteil ansieht, in dem man sich besser nicht aufhalten sollte, ist - wie eingangs erwähnt - ein subjektiver Eindruck. Eine "No-Go-Area" im Sinne eines rechtsfreien Raumes, in den sich selbst die Polizei nicht mehr hineintraut, wie es etwa den Pariser Banlieues nachgesagt wird, ist er sicherlich nicht. Aber eine "No-Go-Area" im Sinne eines Angstraumes, den man insbesondere zu Nachtzeiten gerne meidet, ist er sehr wohl. Und das angesichts der Kriminalitätsbelastung nicht völlig unbegründet.

Die "Neckarstadt-West" war schon von jeher ein Problemgebiet, aber die strukturellen Änderungen der vergangenen Jahre haben die Situation dort eher noch verschärft. Von daher ist die Entrüstung über Düzen Tekkals Äußerung absolut unverständlich. Es soll gar nicht darum gehen, einen ganzen Stadtteil zu stigmatisieren, es ist freilich auch wenig hilfreich, die Lage zu beschönigen. Drumherum reden ist meines Erachtens schädlich, weil die Probleme dadurch unter den Teppich gekehrt werden. Nur dann, wenn man die Probleme schonungslos benennt, kann sich etwas zum Positiven ändern. Insofern ist der Aussage Düzen Tekkals nur beizupflichten.

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[1] Mannheimer Morgen vom 18.01.2017
[2] Offene Daten Stadt Mannheim, Bevölkerung
[3] Polizeipräsidium Mannheim, Kriminalstatistik 2015
[4] Badische Zeitung vom 30.06.2016
[5] Stadt Mannheim vom 11.10.2012, Hervorhebung durch den Autor
[6] Mannheimer Morgen vom 29.08.2012
[7] Rheinneckarblog vom 18.01.2017, Jede Menge handwerkliche Fehler bei "Anne Will"
[8] Rheinneckarblog vom 24.11.2016, Massive Ängste und Zweifel an der Sicherheitslage in Mannheim


Nachtrag (03.04.2017):
Eine aktuelle Bürgerbarometer-Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen zum Thema Sicherheit kommt zu folgendem Ergebnis: In der Neckarstadt-West sagen 46 Prozent der Bewohner, dass sie bestimmte Ecken meiden. [9] Das ist ein Wert, der 3 Prozentpunkte schlechter ist als der von 2012, die Situation in der Neckarstadt-West hat sich also aus der Sicht der Bürgerinnen und Bürger verschlimmert.

[9] Mannheimer Morgen vom 30.03.2017