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11. Februar 2017, von Michael Schöfer
Widerliche Selbstbedienungsmentalität und Ungleichbehandlung


Die Wut der Bürger aufs Establishment hat viele Politiker erschreckt, das war es dann aber auch schon. Derzeit wird zwar ausgiebig über mangelnde Gerechtigkeit philosophiert, doch wenn es ernst wird, gewinnt wieder die alte Selbstbedienungsmentalität die Oberhand. Man hat den Eindruck, die Verantwortlichen verbinden die Krise unserer Gesellschaft mit allem, bloß nicht mit ihrem eigenen Verhalten. Völlig unbeeindruckt füllen sie sich weiterhin ungeniert die Taschen. Schuld sind offenbar immer die anderen.

Beispiel Landtagsabgeordnete in Baden-Württemberg: 2008 wurde der Landtag mit Wirkung zum 01.05.2011 von einem Teilzeit- auf ein Vollzeitparlament umgestellt. Aus diesem Anlass stieg die Grunddiät von damals 4.879 Euro auf 6.247 Euro (ein Plus von 1.368 Euro oder 28 Prozent). Wie das bei der Altersversorgung konkret aussah, erläuterte die Landeszentrale für politische Bildung: "Im Gegenzug müssen die Abgeordneten künftig selbst für ihr Alter vorsorgen anstatt die bisherige staatliche Altersvorsorge in Anspruch nehmen zu können. Hierfür stehen den Abgeordneten künftig 1.500 Euro im Monat zur Verfügung. Allerdings bleiben Abgeordnete, die 2001 und früher in den Landtag gewählt wurden, im alten Pensionssystem, da ihre Ansprüche gesetzlich gesichert sind. Die im Jahr 2006 in den Landtag gewählten Parlamentarier erhalten für die Jahre 2006 bis 2011 eine einmalige steuerpflichtige Pauschale von 90.000 Euro, welche zum Aufbau einer privaten Altersvorsorge verwendet werden muss." [1] Schon bei der Umstellung gab es also reichlich Anlass, sich über die üppige Ausgestaltung zu beklagen. So stelle ich mir eine Rentenreform für den Normalbürger vor: Zunächst wird das Grundgehalt um nahezu ein Drittel erhöht. Dann bekommt man 90.000 Euro als "Entschädigung" für die Übergangszeit, anschließend gibt’s obendrauf noch einmal monatlich 1.500 Euro zur Anlage bei irgendeiner privaten Rentenversicherung. Bei den Arbeitnehmern würden bestimmt die Sektkorken knallen.

Die Niedrigzinsphase im Nachgang der Finanz- und Wirtschaftskrise hat bei vielen Bürgerinnen und Bürger die Kalkulation ihrer privaten Altersvorsorge über den Haufen geworfen, am Ende kommt weniger heraus als ursprünglich gedacht. Wie gut, wenn man Abgeordneter ist und seine Altersvorsorge flexibel den widrigen Bedingungen anpassen kann. Nun wurde mit den Stimmen von Grünen, CDU und SPD das Abgeordnetengesetz geändert: "Ein ehemaliger Abgeordneter erhält nach seinem Ausscheiden eine Altersentschädigung, wenn er das 67. Lebensjahr vollendet und dem Landtag (...) mindestens ein Jahr angehört hat. (…) Auf Antrag kann die Altersentschädigung vorzeitig ab Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch genommen werden. Die Altersentschädigung vermindert sich in diesem Fall um 0,3 vom Hundert für jeden Monat, für den die Altersentschädigung vorzeitig in Anspruch genommen wird. (…) Die Altersentschädigung beträgt für jedes Jahr der Mitgliedschaft 2,5 vom Hundert der Abgeordnetenentschädigung nach § 5 Absatz 1. Der Höchstbemessungssatz der Altersentschädigung beträgt 65 vom Hundert." [2]

Was sind 2,5 Prozent der Abgeordnetenentschädigung? Ein Abgeordneter des Landtags von Baden-Württemberg bekommt derzeit monatlich 7.616 Euro. [3] 2,5 Prozent sind somit 190,40 Euro. Das heißt, nach einer einzigen Legislaturperiode, die in Baden-Württemberg fünf Jahre dauert, erwirbt ein Landtagsabgeordneter nach derzeitigem Stand eine Altersentschädigung von 952 Euro. Bei zwei Legislaturperioden sind es schon 1.904 Euro und bei drei Legislaturperioden 2.856 Euro. Das kann, sofern der oder die Abgeordnete immer wieder aufs Neue in den Landtag gewählt wird, bis zum Höchstsatz von 4.950,40 Euro (65 % von 7.616 €) weitergehen.

Der Vorsorgebeitrag gemäß § 11 Absatz 1 des Abgeordnetengesetzes ist inzwischen ebenfalls von 1.500 Euro auf 1.679 Euro gestiegen. Zahlt man diesen Betrag von jetzt an 15 Jahre lang in eine private Rentenversicherung ein, bekäme man später eine garantierte Mindestrente von 1.198 Euro, unter Einschluss der nicht garantierten Überschussbeteiligung wären es 1.841 Euro. [4] Kein Wunder, dass die Landtagsabgeordneten ihre Altersversorgung auf einer geänderten Grundlage weiterführen wollen. Nach dem jetzt beschlossenen System bekommen sie nach 15 Jahren (drei Legislaturperioden) garantiert 2.856 Euro heraus, das sind 1.658 Euro mehr als bei der garantierten Privatrente.

Zum Vergleich: Ein Standardrentner (45 Beitragsjahre, Durchschnittseinkommen) bekommt in Westdeutschland derzeit eine Bruttorente von 1.342 Euro ausgezahlt, das ist ein Standardrentenniveau von 44,5 Prozent. [5] Wohlgemerkt, nach 45 Versicherungsjahren! Der Standardrentner wird betragsmäßig von einem Landtagsabgeordneten bereits nach sieben Jahren und einem Monat überholt. [6]

Es ist wirklich wunderbar, wenn man die Höhe seiner eigenen Altersversorgung selbst beschließen kann. Hätten alle Bürger dieses Privileg, würden wir wohl kaum über die drohende Altersarmut diskutieren. Wir müssen leider abermals zur Kenntnis nehmen, dass auch in einer Demokratie manche Menschen gleicher sind (frei nach George Orwells Fabel Farm der Tiere: "Alle Tiere sind gleich, aber manche sind gleicher"). Ist die eingangs erwähnte Wut aufs Establishment angesichts dessen nicht verständlich? Keiner verlangt von den Abgeordneten zu darben, aber diese widerliche Selbstbedienungsmentalität und Ungleichbehandlung ist absolut inakzeptabel.

Übrigens: Zu den Forderungen der Gewerkschaften in der laufenden Tarifrunde des Öffentlichen Dienstes der Länder (6 % incl. sozialer Komponente) sagt die Tarifgemeinschaft der Länder (TdL), diese seien "weit überzogen". Stimmt. Das, was sich die baden-württembergischen Abgeordneten gönnen, würde vollkommen ausreichen. (Achtung: Ironie!)

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[1] Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, Landtagsreform Baden-Württemberg
[2] Landtag von Baden-Württemberg, Drucksache 16 / 1583, PDF-Datei mit 178 kb
[3] Landtag von Baden-Württemberg, Diäten
[4] Beispiel eines am 01.01.1960 geborenen Versicherten, Rentenbeginn 01.03.2032, ohne dreiprozentige Beitragsdynamik berechnet
[5] Deutsche Rentenversicherung, Standardrente und Rentenniveau der allgemeinen Rentenversicherung 2016
[6] 190,40 € x 7 Jahre = 1.332,80 €, + 190,40 € : 12 Monate = 15,87 € ergibt summa summarum 1.348,67 €


Nachtrag (14.02.2017):
Wenn du nicht mehr weiter weißt, gründe einen Arbeitskreis! Die umstrittene Neuordnung der Abgeordnetenversorgung wird vorerst ausgesetzt, eine Expertenkommission soll neue Regeln für die Altersversorgung erarbeiten. Die Wellen, die die Proteste gegen diese "Luxus-Altersversorgung" schlugen, waren offenbar zu hoch. Doch abwarten, noch ist das Ganze nicht endgültig vom Tisch. Vielleicht soll die Expertenkommission den Abgeordneten bloß erst einmal wieder ein bisschen Luft verschaffen. Was stattdessen kommen wird, ist nämlich ungewiss. Grundfrage: Gibt es überhaupt Änderungsbedarf?