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01. März 2017, von Michael Schöfer
Es ist viel einfacher, sich gegenseitig mit Dreck zu bewerfen


"SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz hat die Unionsparteien für eine schlechtere Sicherheitslage in Deutschland verantwortlich gemacht. Die neoliberale Politik habe unter dem Stichwort schlanker Staat die Polizei und andere Sicherheitsorgane ausgeblutet und damit die Kriminalitätsbekämpfung erschwert, sagte Schulz am Sonntag auf einer Wahlkampfveranstaltung in Leipzig. Da das Bundesinnenministerium seit zwölf Jahren von CDU und CSU geführt werde, sei es nun Zeit für einen sozialdemokratischen Innenminister." [1]

CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer warf Schulz daraufhin vor, beim Thema Innere Sicherheit "völlig ahnungslos" zu sein: "Schon wieder ein SchulzFake, wenn Kandidat Schulz behauptet, die Union habe an der Polizei gespart. Das Gegenteil ist der Fall: Die rot und grün regierten Länder haben an der Polizei gespart und liegen in der Kriminalitätsstatistik hinten, weil sie überschuldet sind und nicht ausreichend Polizisten einstellen. Es zeigt sich: Schulz hat von Innenpolitik und Innerer Sicherheit keine Ahnung. Die Mehrheit der Deutschen hält Schulz für unglaubwürdig, bescheinigt eine aktuelle Umfrage. Und mit jedem SchulzFake wächst seine Unglaubwürdigkeit." [2]

Nun haben beide ein bisschen recht und ein bisschen unrecht. Schaut man sich nämlich die harten Fakten an, ergibt sich folgendes Bild:

Entwicklung des Vollzeitäquivalents der Beschäftigten in den Kernhaushalten des Bundes und der Länder im Aufgabenbereich Polizei nach Ländern (Beamtinnen und Beamte, jeweils am 30.06.) [3]

1998 2015 Differenz
1998-2015 in %
Bund 35.435 36.260 + 2,33 %
Baden-Württemberg 26.355 25.585 - 2,92 %
Bayern 31.330 33.575 + 7,17 %
Berlin 21.185 18.915 - 10,72 %
Brandenburg 8.530 7.585 - 11,08 %
Bremen 3.085 2.935 - 4,86 %
Hamburg 8.050 8.280 + 2,86 %
Hessen 15.135 15.095 - 0,26 %
Mecklenburg-Vorpommern 5.940 4.970 - 16,33 %
Niedersachsen 18.470 19.550 + 5,85 %
Nordrhein-Westfalen 43.295 42.585 - 1,64 %
Rheinland-Pfalz 9.725 10.500 + 7,97 %
Saarland 2.880 2.870 - 0,35 %
Sachsen 12.650 11.485 - 9,21 %
Sachsen-Anhalt 8.985 6.645 - 26,04 %
Schleswig-Holstein 7.355 7.070 - 3,87 %
Thüringen 6.880 6.325 - 8,07 %
Zusammen 265.285 260.235 - 1,90 %

Neoliberale Politik gibt es, anders als Martin Schulz suggeriert, nicht erst seit zwölf Jahren, sie wird mindestens schon seit Anfang der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts praktiziert. Sie wurde übrigens nicht nur von der Union, sondern auch von der SPD betrieben. Angela Merkel (CDU) wird bei der nächsten Bundestagswahl am 24. September 2017 auf fast zwölf Jahre Regierungszeit zurückblicken können - acht davon mit der SPD als Koalitionspartner. Schuldzuweisungen sind eben eine heikle Sache. Und wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Da sowohl im Bund als auch in den Ländern die Regierungen häufig wechselten bzw. in den unterschiedlichsten Koalitionen regierten, müsste man sich im Grunde in allen 17 politischen Einheiten (Bund + 16 Länder) minutiös die Stellenpläne der einzelnen Haushaltsjahre ansehen. Schon allein das wäre eine Wissenschaft für sich.

Die Zahl der Polizeibeamten bewegte sich jedenfalls in der Vergangenheit einmal nach oben und einmal nach unten - je nachdem, wie im jeweiligen Haushalt gerade die Prioritäten gesetzt wurden. Beispiel Nordrhein-Westfalen: 2015 hatte NRW 1,64 Prozent weniger Polizeibeamte als 1998 [4], aber nach den vorliegenden Daten des Statistischen Bundesamtes wurde der Tiefpunkt 2009 mit 40.795 Beamten erreicht. Doch damals war Jürgen Rüttgers (CDU) Ministerpräsident, Ingo Wolf (FDP) Innenminister und Helmut Linssen (CDU) Finanzminister. Rüttgers wurde 2010 abgewählt, seitdem regiert dort Hannelore Kraft (SPD). Und von da ab geht es mit der Zahl der Polizeibeamten peu à peu bergauf, obgleich der Stand von 1998 bis dato noch nicht wieder erreicht wurde. Wenn nun CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer der rot-grünen Landesregierung unter Hannelore Kraft vorwirft, sie habe Polizeibeamte abgebaut, ist das objektiv falsch. Richtig ist vielmehr das Gegenteil. Den Vorwurf müsste Scheuer an seinen Parteifreund Jürgen Rüttgers richten. [5]

Die Daten der einzelnen Jahre sind aber mit Vorsicht zu genießen. Auf dem Arbeitsmarkt gibt es nämlich keine fertig ausgebildeten Polizeibeamten, die man nur einzustellen braucht. Bund und Länder müssen sie erst mühsam selbst ausbilden. Bis ein Beamter vor Ort Streife läuft, gehen rund drei Jahre ins Land. Außerdem sind die Ausbildungskapazitäten begrenzt, man kann also unter Umständen gar nicht so viel Polizeibeamte ausbilden, wie man politisch vielleicht möchte. Zu berücksichtigen ist auch die Gegenüberstellung von neu eingestellten und in Pension gehenden Beamten. In Baden-Württemberg beispielsweise wurden unter der grün-roten (2011-2016) bzw. grün-schwarzen (seit 2016) Landesregierung wieder mehr Polizeibeamte eingestellt. Den vorherigen Abbau hatte Schwarz-Gelb zu verantworten. Da jedoch in den nächsten Jahren mehr Beamte in den Ruhestand gehen als man ausbilden kann (Folge der starken Einstellungsjahrgänge in der Hochzeit des RAF-Terrors), sinkt dort paradoxerweise die Zahl der Polizeibeamten, obwohl seit 2011 eine Einstellungsoffensive gefahren wird. Doch ist das die Schuld von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne)? Oder ist das die Schuld seiner Amtsvorgänger aus den Reihen der CDU? Eher letzteres, denn Baden-Württemberg wurde vor 2011 ganze 58 Jahre lang von einem CDU-Ministerpräsidenten regiert. Die Personalentwicklung bei der Polizei hat eine längere Vorlaufzeit, sie einzelnen Landesregierungen, Koalitionen oder Ministern anzulasten, ist mitunter schwierig und daher bisweilen unseriös.

Bayern, wo seit 1957 ununterbrochen die CSU regiert, steht bei den Polizeibeamten mit einem Plus von 7,17 Prozent natürlich sehr gut da. Darauf darf Andreas Scheuer fraglos stolz sein. Das größte Plus seit 1998 weist allerdings mit 7,97 Prozent Rheinland-Pfalz auf, das freilich ab 1991 nur noch von SPD-Ministerpräsidenten regiert wurde. "Die rot und grün regierten Länder haben an der Polizei gespart." (O-Ton Andreas Scheuer) Das ist offenkundig nur die halbe Wahrheit. Spitzenreiter beim Abbau von Polizeibeamten ist Sachsen-Anhalt, wo seit 1990 (mit Ausnahme der Jahre zwischen 1994 und 2002) ein CDU-Ministerpräsident das Sagen hat. Wie bereits erwähnt, Schuldzuweisungen sind eine heikle Sache.

Die Polizei ist im Wesentlichen eine Angelegenheit der Länder, weshalb der Verweis von Martin Schulz auf die Verantwortung des Bundesinnenministers zu kurz greift. Kurios ist der Vorwurf an den Bundesinnenminister auch deshalb, weil der Bund - siehe oben - die Anzahl der Polizeibeamte seit 1998 aufgestockt hat. Nicht unwichtig ist obendrein das Amt des Bundesfinanzministers, der bekanntlich mit Argusaugen über die Haushaltsmittel wacht, und das vor Wolfgang Schäuble (CDU) elf Jahre lang die SPD innehatte (Oskar Lafontaine, Werner Müller, Hans Eichel, Peer Steinbrück).

Was haben wir eingangs gelesen? Ein SchulzFake? Angesichts der Zahlen ist Schulz' Behauptung weder falsch noch richtig. Sie ist unpräzise, weil sie uns nur die halbe Wahrheit präsentiert. Und zwar den Teil der Wahrheit, der der SPD und ihrem Kanzlerkandidaten am meisten nützt. Aber Scheuer muss sich ebenfalls den Vorwurf gefallen lassen, nur die halbe Wahrheit zu präsentieren. Und zwar die, die wiederum der CSU in den Kram passt. Mit dem gleichen Recht könnte man daher genauso gut auch von einem ScheuerFake sprechen.

Im Wahlkampf wird gerne holzschnittartig argumentiert, für differenzierte Betrachtungen ist in solchen Zeiten bedauerlicherweise wenig Platz. Wäre ja auch ziemlich schwierig, den politischen Gegner mit einem lauwarmen "Sowohl-als-auch" anzugreifen. Da lässt man die eigentlich notwendige Differenziertheit am liebsten gleich ganz außer Acht und bewirft das jeweilige Gegenüber kurzerhand mit Dreck. The show must go on. Koste es, was es wolle. Sind halt die üblichen Spielchen.

Resümee: Bei der Polizei gespart wurde nahezu überall, denn 2015 war bloß in vier von insgesamt 16 Bundesländern die Zahl der Polizeibeamten höher als 17 Jahre zuvor. Die Schuld, die Sicherheit längere Zeit vernachlässigt zu haben, müssen sich somit sämtliche Parteien vorwerfen lassen: CDU, SPD, Grüne, FDP und Linke. So traurig das ist, es bedurfte erst einer Reihe von Anschlägen, um in puncto Personalpolitik ein Umdenken in Gang zu setzen. Das ist für die verantwortlichen Politiker insgesamt wenig schmeichelhaft, geht jedoch im Wahlkampfgeplärre fast völlig unter.

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[1] Die Welt-Online vom 26.02.2017
[2] Website von Andreas Scheuer
[3] Statistisches Bundesamt, Personal des öffentlichen Dienstes, Fachserie 14 Reihe 6 - 2015, Ergebnisse der Personalstandstatistik 2015, Excel-Datei mit 1,65 MB
[4] ältere Daten vor 1998 liegen beim Statistischen Bundesamt nicht vor

[5] Zahlen aus der Regierungszeit Rüttgers: 2005: 40.821, 2006: 40.670, 2007: 40.572, 2008: 40.314, 2009: 40.794, 2010: 41.136; ein Jahr vor seiner Wahl zum Ministerpräsidenten gab es in NRW 41.217 Polizeibeamte