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25. März 2017, von Michael Schöfer
Mister 100 Prozent

Dass sich die SPD an Martin Schulz berauscht, ist nicht weiter verwunderlich. Endlich holt sie jemand aus dem Jammertal, in das sie durch die Schrödersche Agenda-Politik gefallen war. Leitspruch: "Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück, denn Martin Schulz ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln." Mit 100 Prozent zum SPD-Chef gewählt, mit 100 Prozent auf der NRW-Landesliste zur Bundestagswahl auf den Spitzenplatz gesetzt - besser geht es nicht. Und das sogar ganz ohne Wahlfälschung oder Druck von oben, Erich Honecker würde vor Neid erblassen.

Doch die Besoffenheit der SPD an sich selbst ist nicht bloß Autosuggestion, sondern hat auch tatsächlich Auswirkungen auf die Wählerinnen und Wähler. Umfragen zufolge liegen die Sozialdemokraten bundesweit bei 32 Prozent und damit auf Augenhöhe mit der Union. Letztere ist konsterniert und weiß nicht so recht, wie sie den Schulz-Hype brechen soll. "Wir regieren, die SPD macht Show", beschwert sich CDU-Generalsekretär Tauber. Nur scheint das die Wähler wenig zu stören. Peter Tauber müsste eigentlich wissen, dass Politik, zumal in Wahlkampfzeiten, fast ausschließlich Show ist. Immerhin ist die Union diesbezüglich ebenfalls kein Waisenknabe. Nur im Augenblick scheint ihr wenig einzufallen, das Momentum ist klar auf Seiten der SPD.

Falls die Umfragen zutreffen, wird Rot-Rot am morgigen Sonntag im Saarland triumphieren und die durchaus beliebte CDU-Ministerpräsidentin Kramp-Karrenbauer ablösen. So schnell kann das gehen. Dabei hat sich bei der SPD inhaltlich kaum etwas geändert, das bisschen mehr Gerechtigkeit, das sie dem Wahlvolk als neue Errungenschaft verkauft, ist zum Großteil Kosmetik. Schulz will den Bezug des Arbeitslosengeldes I durch Qualifizierung verlängern. Ohne Zweifel sinnvoll, doch an der prekären Lage der Hartz IV-Bezieher ändert das keinen Deut. Und an deren menschenverachtenden Behandlung durch die Behörden ebenso wenig. Die Bedarfsgemeinschaft abzuschaffen, das Kindergeld nicht mehr mit Hartz IV zu verrechnen, wäre viel gerechter gewesen.

Was die SPD in den Augen der Menschen attraktiv macht, ist die Sehnsucht nach einer Sozialdemokratie, die es früher einmal gab (und die es vermutlich nie wieder geben wird). Es ist die Sehnsucht nach einer Partei, die sich - weniger sektiererisch als die Linke, weniger nationalistisch als die AfD - für den vielbeschworenen "kleinen Mann auf der Straße" einsetzt und die Erosion der Mittelschicht zum Stillstand bringt. Kurioserweise scheinen die Wählerinnen und Wähler das, was wir der SPD zu verdanken haben (Hartz IV, Senkung des Rentenniveaus oder Deregulierung des Finanzmarktes), nicht mit Martin Schulz zu verknüpfen. Er muss sich dafür nicht einmal demonstrativ vom Saulus zum Paulus entwickeln. Wirklich ein Phänomen.

Nicht auszuschließen, dass der Schulz-Hype bis zur Bundestagswahl hält und "Sankt Martin" sogar ins Bundeskanzleramt trägt. Dass viele Angela Merkel überdrüssig geworden sind, mag da noch ein bisschen mithelfen. Die entscheidende Frage ist allerdings, was ein Bundeskanzler Schulz daraus machen würde. Der SPD-Kanzlerkandidat war bekanntlich ein guter Jugendfußballer, und bestimmt kennt er noch etliche Fußballweisheiten. Einige davon sind vom legendären Sepp Herberger. Sie lauten: "Nach dem Spiel ist vor dem Spiel", "Der Ball ist rund und das Spiel dauert 90 Minuten", "Das nächste Spiel ist immer das schwerste". Will heißen: Mit dem Sieg bei der Bundestagswahl fängt es erst richtig an, dann müssen Martin Schulz und die SPD in der Realität beweisen, dass sie mehr als nur große Sprüche klopfen können. Erfahrungsgemäß ist genau das das eigentliche Problem der Sozialdemokratie.

Wenn man realistisch ist, wird es auf Bundesebene ohnehin erneut auf eine Große Koalition hinauslaufen, weil die aktuellen Umfragen für Rot-Rot-Grün keine Mehrheit erwarten lassen (z.B. Infratest Dimap: SPD 32 %, Grüne 8 %, Linke 7 % = 47 % vs. CDU 32 %, FDP 6 %, AfD 11 % = 49 %). Ob sich daran noch etwas entscheidend ändert, ist fraglich. Schulz wird demnach allenfalls mit der Union als Juniorpartner im Schlepptau zum Bundeskanzler gewählt. Und welche Politik daraus resultieren würde, kann man sich an fünf Fingern abzählen. Jedenfalls keine, die derzeit als Phantasie in vielen Köpfen herumspukt und den Schulz-Hype befeuert.