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23. Mai 2017, von Michael Schöfer
Man muss das Ganze sehen


Reinhold von Eben-Worlée und Lutz Goebel vom Verband der Familienunternehmer beten in der Süddeutschen das übliche neoliberale Mantra herunter. "Statt beispielsweise über Steuererhöhungen und noch mehr Umverteilung zu diskutieren, sollten die Politiker im anstehenden Wahlkampf die Frage thematisieren, wie die Bürger und Betriebe in unserem Land entlastet werden können", schreiben sie. Der deutsche Durchschnittsverdiener, unverheiratet und kinderlos, müsse 49,4 Prozent, also die Hälfte seines Einkommens, an den Staat abliefern. Noch gehe es uns prächtig und die meisten seien mit ihrem persönlichen Leben zufrieden, aber… [1] Da kann man das Gähnen kaum noch unterdrücken, solche Äußerungen sind mittlerweile, weil ebenso vorhersehbar wie falsch, ungeheuer ermüdend.

Die 49,4 Prozent gehen auf eine Studie der OECD über die Gesamtbelastung von Arbeitseinkommen durch Steuern und Sozialabgaben zurück, die im April diesen Jahres veröffentlicht wurde und sich auf das Jahr 2015 bezieht. Die Studie hat allerdings die "Arbeitskosten (Bruttoverdienst plus Sozialbeiträge Arbeitgeber)" im Fokus, meint also nicht bloß die Differenz zwischen Brutto- und Nettogehalt (das, was der Arbeitnehmer auf seiner Gehaltsbescheinigung sieht). Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes lag 2015 der durchschnittliche Bruttomonatsverdienst im Produzierenden Gewerbe und im Dienstleistungsbereich bei 3.612 Euro. Laut dem Gehaltsrechner der Techniker-Krankenkasse zahlte der unverheiratete und kinderlose Durchschnittsverdiener bei diesem Bruttogehalt folgende Steuern bzw. Abgaben:

Lohnsteuer 634,08 €
Solidaritätszuschlag 34,87 €
Kirchensteuer 50,72 €
Steuern insgesamt 719,67 €

Krankenversicherung (0 % Zusatzbeitrag) 263,68 €
Pflegeversicherung 51,47 €
Rentenversicherung 337,72 €
Arbeitslosenversicherung 54,18 €
Sozialabgaben insgesamt 707,05 €

Bruttogehalt 3.612,00 €
Abzüge insgesamt 1.426,72 €
Nettogehalt 2.185,28 €
Steuer- und Abgabenquote 39,50 %

Das ergibt eine Steuer- und Abgabenquote von lediglich 39,5 Prozent. Natürlich rechnet die OECD die Sozialabgaben des Arbeitgebers zur Abgabenlast des Arbeitnehmers hinzu, kommen doch die Beiträge letztlich dem Arbeitnehmer zugute, der Rentenbeitrag des Arbeitgebers erhöht beispielsweise die Rente seiner Beschäftigten.

Krankenversicherung 263,68 €
Pflegeversicherung 42,44 €
Rentenversicherung 337,72 €
Arbeitslosenversicherung 54,18 €
Insolvenzumlage [2]
5,42 €
Arbeitgeberbeitrag zur SV insgesamt 703,44 €

Das Gehalt beträgt demnach aus der Sicht der Arbeitgeber 4.315,44 Euro (3.612,00 Bruttoverdienst plus 703,44 € Arbeitgeberbeitrag zur Sozialversicherung), die Steuer- und Abgabenquote folglich 49,36 Prozent. Das deckt sich mit der Studie der OECD. So weit, so gut.

Bruttoverdienst plus Arbeitgeberbeitrag zur SV 4.315,44 €
Steuern und Sozialabgaben 2.130,16 €
Steuer- und Abgabenquote 49,36 %

Doch ist der Arbeitgeberbeitrag zur Steuer- und Abgabenbelastung tatsächlich dem Arbeitnehmer zuzurechnen ("Der deutsche Durchschnittsverdiener muss die Hälfte seines Einkommens an den Staat abliefern")? Daran darf man mit Recht zweifeln. Erstens werden die sogenannten Lohnnebenkosten nicht von den Tarifvertragsparteien ausgehandelt, sondern gesetzlich festgelegt, sie sind daher der direkten Einflusssphäre der Arbeitnehmer entzogen. Wären sie zweitens wirklich Bestandteil seines Einkommens, müsste der Arbeitnehmer bei einer Reduzierung des Beitragssatzes auch den Anteil des Arbeitgebers ausgezahlt bekommen. Andernfalls würde ja der Arbeitgeber von etwas Besitz ergreifen, das ihm gar nicht gehört. Der sinkende Arbeitgeberbeitrag kommt jedoch ausschließlich dem Arbeitgeber zugute. Das heißt: Die sogenannten Lohnnebenkosten sind zwar an das Einkommen des Arbeitnehmers gekoppelt, aber dennoch der Sphäre des Arbeitgebers zuzurechnen. Von daher zu behaupten, der Arbeitnehmer müsse die Hälfte seines Einkommens an den Staat abgeben, grenzt fast schon an Demagogie. Die Lohnnebenkosten sind vielmehr Produktionskosten, deren Bemessungsgrundlage eben bloß das Arbeitnehmereinkommen ist.

Obendrein sind sie nur ein Kostenfaktor unter vielen. So hatten etwa die Personalkosten bei den Autozulieferern im Jahr 2013 an den Gesamtkosten einen Anteil von 18 Prozent, während sich die Materialkosten auf 55,6 Prozent beliefen. [3] Gemessen daran fällt eine Entlastung bei den Lohnnebenkosten kaum ins Gewicht. Würde man etwa den Beitragssatz zur Rentenversicherung um ein Prozent senken (von derzeit 18,7 % auf 17,7 %), sparen Arbeitgeber pro Durchschnittsverdiener und Monat magere 18,06 Euro = ganze 0,42 Prozent der auf den Arbeitnehmer entfallenden Personalkosten. An den Gesamtkosten des Autozulieferers eine vernachlässigbare Größenordnung, denn anstatt 18 Prozent Personalkostenanteil wären es dann 17,93 Prozent, er hätte armselige 0,07 Prozent gespart. Da fallen Währungsschwankung oder die traditionell sprunghaften Rohstoffpreise wesentlich mehr ins Gewicht. Anders ausgedrückt: Die Diskussion um die Lohnnebenkosten war von jeher eine Gespensterdiskussion. Zumindest was die Belastung der Arbeitgeber angeht.

Außerdem: Haben Reinhold von Eben-Worlée und Lutz Goebel noch nie die Kluft zwischen Arm und Reich zur Kenntnis genommen? Nach den Daten des Arbeitsministeriums lag der Anteil der Niedriglohnempfänger (Verdienst knapp oberhalb der Armutsgrenze) in Westdeutschland (einschl. Berlin) bei 19,3 Prozent, in den neuen Bundesländern waren es sogar 34,5 Prozent. [4] Deutschland hat Eurostat zufolge in der EU mit 22,5 Prozent nach Lettland, Rumänien, Litauen, Polen und Estland den größten Niedriglohnsektor. [5] Und im Dezember 2016 lag die Zahl der Kinder, die auf Hartz IV angewiesen sind, bei 1,6 Mio. [6]

Darüber schreiben die beiden jedenfalls nichts. Aber gleichzeitig wundern sie sich: "Unsere vertraute Welt scheint aus den Fugen zu geraten: vom Brexit über Trump bis zu Erdogan - in vielen Staaten haben Nationalisten und Protektionisten Aufwind." Und warum wohl? Auf die Ursachen gehen sie gar nicht ein, ihr Fokus ist auf die Belastung der Unternehmen gerichtet. Wie von ihresgleichen nicht anders zu erwarten tragen sie das neoliberale Credo wie eine Monstranz vor sich her. Sie sind sich noch nicht einmal zu schade, dabei auch noch den Durchschnittsverdiener nach vorne zu schieben. Wie selbstlos. Waren es im Übrigen nicht gerade die Familienunternehmer, die bei der Reform der Erbschaftsteuer erfolgreich Lobbyarbeit betrieben haben? Selbstverständlich ging es ihnen nur um den Erhalt der Arbeitsplätze. Selbstverständlich! Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Es wäre wesentlich besser, die Familienunternehmer würden über reale ökonomische Fakten diskutieren und weniger der in Deutschland vorherrschenden Wirtschaftsideologie folgen. Volkswirtschaftlich betrachtet geht es uns unbestreitbar gut, doch für die ungleiche Verteilung des erwirtschafteten Reichtums scheinen die Familienunternehmer blind zu sein. Aber man muss das Ganze sehen, nicht bloß die Bilanz des eigenen Unternehmens. Dazu ist es notwendig, ab und zu über den Tellerrand hinauszublicken.

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[1] Süddeutsche vom 22.05.2017
[2] DAK, Insolvenzgeldumlage aufgrund einer gesetzlichen Verpflichtung: "Insolvenzgeld wird an Arbeitnehmer gezahlt, die für die letzten drei Monate vor einer Insolvenz noch Arbeitsentgelt beanspruchen können. Die Mittel für das Insolvenzgeld sind von den Arbeitgebern durch die Insolvenzgeldumlage zu finanzieren. (...) Die Umlage wird prozentual vom umlagepflichtigen Arbeitsentgelt erhoben. Die Höhe des Umlagesatzes wird vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) festgelegt."
[3] Statista, Verteilung der Kostenarten an den Gesamtkosten der Automobilzulieferer in Deutschland im Jahr 2013
[4] Süddeutsche vom 11.12.2016
[5] Eurostat, Pressemeldung vom 08.12.2016 (Stand 2014)
[6] Zeit-Online vom 22.05.2017