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31. Mai 2017, von Michael Schöfer
Es wäre töricht, das transatlantische Bündnis aufs Spiel zu setzen


Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die USA, nicht zuletzt aus purem Eigeninteresse heraus, ein Bündnis mit Westeuropa geschlossen. Es beruhte auf gemeinsamen Werten (Demokratie, Rechtsstaat) und deckungsgleichen Interessen (ökonomisch, militärisch). Dieses Bündnis hat zumindest Nordamerika und Europa über sieben Jahrzehnte hinweg Wohlstand und Stabilität beschert. Unser in der Vergangenheit immer wieder von Kriegen zerrissene Kontinent erlebte eine so lange Friedensperiode wie noch nie. Das war bis dato, jedenfalls in groben Zügen, die politische Konstellation, zu der sich beiderseits des Atlantiks die meisten bekannten.

Das transatlantische Bündnis scheint aber nach der Wahl von Donald Trump vor einer gefährlichen Bewährungsprobe zu stehen, denn Bundeskanzlerin Angela Merkel hat mit ihrer Äußerung nach dem G7-Gipfel im italienischen Taormina eine strategische Neuausrichtung angedeutet. Man könne sich auf die USA nicht mehr uneingeschränkt verlassen, stellte Merkel ernüchtert fest, folglich müssten die Europäer ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen. Das klang nach tektonischer Verschiebung von historischem Ausmaß, wobei berechtigte Zweifel bestehen, ob die Kanzlerin es wirklich ernst meint. Wir haben schließlich, das darf man keinesfalls übersehen, im Herbst Bundestagswahl.

Eine so schwerwiegende strategische Neuausrichtung sollte man auch nicht von einem einzigen, obendrein zu Hause heftig umstrittenen Politiker abhängig machen. Ebenso wenig wie eine Schwalbe einen Sommer macht, kann ein einzelner Politiker das transatlantische Bündnis zerstören. Nicht einmal wenn er Präsident der Vereinigten Staaten ist und die Verbündeten auf dem diplomatischen Parkett schroff anpöbelt. Trump kann damit zwar vorübergehend Irritationen auslösen und für Missstimmung sorgen, was er ja bereits zur Genüge getan hat. Aber ist es denkbar, dass sich die vitalen Interessen der USA und ihrer Verbündeten tatsächlich allein dadurch unüberbrückbar weit voneinander entfernen? Kaum anzunehmen, denn weder die Vereinigten Staaten noch Europa wollen sich von der Demokratie und vom Rechtsstaat verabschieden. Es liegt daher in beiderseitigem Interesse, in einer zunehmend bedrohlicher werdenden Welt die gemeinsamen Werte auch weiterhin gemeinsam zu verteidigen. Alles andere wäre töricht.

Die Europäische Union hätte durchaus das Potenzial zu einer Supermacht. Die EU hat auch ohne Großbritannien immer noch 445 Mio. Einwohner (USA 323 Mio.) und erwirtschaftet ein Bruttoinlandsprodukt von 12,45 Bio. Euro (USA 16,58 Bio. €). [1] Ihre Wirtschaftskraft würde allemal ausreichen, eine wirksame Selbstverteidigung zu garantieren. Es geht freilich gar nicht darum, das absurd hohe Niveau der amerikanischen Militärausgaben zu erreichen. Der Blick aufs Militärische lenkt ohnehin bloß von der eigentlichen Ursache der Misere ab, und die liegt im Bereich der Ökonomie. Sowohl in den USA als auch in Europa hat die neoliberal ausgerichtete Marktwirtschaft soziale Verwerfungen verursacht, welche die Unzufriedenheit nähren und den Populisten das Reiten auf der Empörungswelle ermöglichen. Donald Trump macht die Handelspartner der USA für die ungerechte binnenwirtschaftliche Einkommens- und Vermögensverteilung verantwortlich. Schuld seien auch die Einwanderer. Als Lösung wird der Rückzug aufs Nationale empfohlen (America first), was für das transatlantische Bündnis zweifellos belastend ist.

Warum die Europäer nicht schon in der Vergangenheit mehr für ihre eigene Verteidigung getan haben, ist sowieso unverständlich. Die Abhängigkeit von den USA ist seit langem offenkundig. Militärisch am Rockzipfel der Amerikaner zu hängen, war recht bequem, hat uns aber auch in politischer Unmündigkeit festgehalten. Dass unter den gegebenen Umständen ein Bündnis auf Augenhöhe unmöglich ist, leuchtet ein. Diese Feststellung darf man jedoch nicht als Plädoyer für verstärkte Aufrüstung missverstehen, es ist vielmehr ein Plädoyer für die effizientere Verwendung der vorhandenen Mittel. Um jeweils die nationale Rüstungsindustrie zu erhalten respektive zu fördern, erlauben sich die Europäer eine Vielfalt von Waffensystemen, die dem Verteidigungszweck zuwiderläuft. Nach einer Studie aus dem Jahr 2013 besitzen die europäischen Armeen 14 unterschiedliche Kampfpanzer, die US-Army nur einen, die Europäer 16 verschiedene Kampfjets, die Amerikaner nur sechs. "Angesichts der hohen Fixkosten von Rüstungsgütern ist diese Fragmentierung eindeutig ineffizient", schreiben die Autoren. [2] Daran hat sich trotz zahlreicher Kooperationsversprechen bislang nichts grundlegend geändert. Europa eigenständig zu machen heißt zuallererst, mit den Partikularinteressen der Rüstungsindustrie zu brechen.

Doch die Bemühungen müssten noch viel weiter gehen. Wer diesseits und jenseits des Atlantiks die Unzufriedenheit mit "dem System" bekämpfen will, muss zwangsläufig für eine gerechte Verteilung von Einkommen und Vermögen sorgen. Das wird indes kaum gelingen, ohne sich von der neoliberalen Agenda zu verabschieden. Wir brauchen nicht bloß ein paar kosmetische Korrekturen, sondern eine grundsätzliche Änderung der Wirtschaftspolitik. Das transatlantische Bündnis wird nicht an Donald Trump zerbrechen. Es wird zerbrechen, wenn wir nicht für eine gerechtere Verteilung des Wohlstands sorgen, weil sich andernfalls immer mehr Menschen für die ebenso eingängigen wie falschen Parolen der Populisten empfänglich zeigen. Selbst wenn Trump vorzeitig durch ein Impeachment stürzen sollte, beseitigt das ja noch lange nicht die Probleme der arbeitslosen Industriearbeiter im Rostgürtel der USA. Und selbst wenn sich Europa ein Stück weit von den USA abkoppelt, beseitigt das ja noch lange nicht die Probleme in den Armutsregionen des Kontinents. Dafür muss eine Lösung her.

Die Diskussion um das transatlantische Bündnis ist daher eine Scheindebatte, die an den wahren Ursachen vorbeigeht. Es wäre außerordentlich unklug, das transatlantische Bündnis aufs Spiel zu setzen, weil das Auseinanderdriften der Demokratien lediglich ihren Feinden in die Hände spielt. Was wir ändern müssen, ist der Charakter dieses Bündnisses, nicht dessen Substanz.

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[1] Währungsrechner von finanzen.net, Wechselkurs vom 31.05.2017: 1 Euro = 1,1191 Dollar, 1 Dollar = 0,8936 Euro
[2] Handelsblatt vom 26.06.2013