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17. Juni 2017, von Michael Schöfer
De mortuis nil nisi bene (von Toten nur Gutes)


Wenn bedeutende Persönlichkeiten sterben, hat das auch etwas Befreiendes, denn schon nach fünf Minuten bin ich auf Seite 4 der Zeitung angelangt. Die ersten drei Seiten sind nämlich mit dem schon lange in der Redaktionsschublade schlummernden Nachruf gefüllt. Man liest dort nur das, was man ohnehin schon weiß. Leitspruch: De mortuis nil nisi bene (von Toten nur Gutes). Wie langweilig, wie erwartbar, wie ermüdend. Deshalb kann ich die ersten drei Seiten getrost überspringen. Mag sein, dass heute viele in Helmut Kohl den "Kanzler der Einheit" sehen. Aber damals gab es zahlreiche Stimmen, die behaupteten, er habe nicht beherzt die Chance zur deutschen Wiedervereinigung ergriffen, ihm habe vielmehr die unverhofft in den Schoß gefallene Chance zur deutschen Wiedervereinigung die Macht gerettet.

Zur Erinnerung: Im September 1989 wollten ihn Heiner Geißler, Lothar Späth, Ernst Albrecht und Rita Süssmuth (intern "Viererbande" genannt) auf dem CDU-Bundesparteitag in Bremen stürzen. Nicht ohne Grund: Bei der Landtagswahl in Berlin (West) im Januar 1989 verlor die CDU satte 8,7 Prozent und damit die Mehrheit im Abgeordnetenhaus, die SPD gewann 4,9 Prozent hinzu. Walter Momper (SPD) löste Eberhard Diepgen (CDU) als Regierenden Bürgermeister ab. Im Jahr zuvor verlor die CDU in Baden-Württemberg erstmals seit 1972 die absolute Mehrheit und in Schleswig-Holstein im Zuge der Barschel-Affäre sogar die Macht. Zum ersten Mal seit 1950 regierte dort wieder ein Sozialdemokrat. Bei der Wahl zum EU-Parlament erzielte die CDU am 18. Juni 1989 blamable 29,5 Prozent, die SPD kam dagegen auf 37,3 Prozent. Der Schock saß tief. In der Kanzlerfrage lagen die potenziellen Kanzlerkandidaten der SPD, Hans-Jochen Vogel und Oskar Lafontaine, laut Emnid weit vor Helmut Kohl: 44 Prozent für Vogel und 42 Prozent für Kohl, 49 Prozent für Lafontaine und 41 Prozent für Kohl. Der traditionelle Amtsbonus hatte sich in einen Amtsmalus verwandelt. Die Frage, ob die CDU "voll und ganz" hinter Kohl stehe, wurde von 59 Prozent der Bürger verneint. In der Sonntagsfrage (Wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre…) lag die Union mit 40 Prozent nur noch knapp vor der SPD (39 Prozent). [1] Doch der Sturz Kohls war dilettantisch vorbereitet, der "Putsch" scheiterte. Und kurz danach kam der Fall der Mauer, anschließend erblickten die "blühenden Landschaften" das Licht der Welt - der Rest ist hinlänglich bekannt.

1998 hatten die Wählerinnen und Wähler dann von Helmut Kohl endgültig die Nase voll, zum ersten Mal wurde auf Bundesebene eine regierende Koalition abgewählt. Machtwechsel hatten bis dahin nur durch den Wechsel des Koalitionspartners stattgefunden (1969 und 1982). Man verband mit Kohl weniger den jetzt allseits gerühmten "Kanzler der Einheit", die Menschen beklagten vielmehr den politischen Stillstand im Land. Kohl galt als "Kanzler der Stagnation". 1991, im ersten Jahr nach der Wiedervereinigung, betrug die Arbeitslosenquote 7,3 Prozent, 1998 waren es jedoch schon 12,3 Prozent. Außerdem finanzierte Kohl die Einheit hauptsächlich durch das Schröpfen der Arbeitnehmer: Die Sozialabgaben betrugen 1990 nur 35,6 Prozent, 1998 erreichten sie mit 42,1 Prozent ihren historischen Höchststand. Die Schulden des Bundes stiegen von 306,3 Mrd. Euro im Jahr 1990 auf 745,3 Mrd. im Jahr 1998 (ein Plus von 143 %). Er hatte 1982 mit 160,4 Mrd. angefangen. Ja, seine Anhänger werden es gewiss nicht gerne hören, Kohl war auch ein "Kanzler der Schulden".

"Ein großer Kanzler", schreibt die Süddeutsche, aber ebenso "ein pragmatischer Machtpolitiker". Das ist eine sehr schmeichelhafte Charakterisierung. Unmittelbar nach dem Machtverlust kochte die CDU-Spendenaffäre hoch, die bis heute durch die Weigerung Kohls, die Spender namentlich zu benennen, immer noch unaufgeklärt ist. Die Namen nimmer er wohl mit ins Grab. Der "Kanzler der Einheit" und der "Kanzler der Stagnation" mutierte zum "Bimbes-Kanzler" (Bimbes = pfälzischer Ausdruck für Geld). Ohne diese Affäre wäre Angela Merkel vermutlich nie Kanzlerin geworden. Und wie Helmut Kohl als Mensch wirklich war, also jenseits der Parteipropaganda, kann man andernorts nachlesen. In Tonbandabschriften oder den Büchern seiner Söhne. Auf die Politik Angela Merkels soll Kohl mit den Worten "die macht mir mein Europa kaputt" reagiert haben, doch ist die Ursache der Schuldenkrise natürlich auch im Webfehler des Euro zu suchen, dessen Einführung er vorangetrieben hat. Allerdings kann man ihm durchaus attestieren: Wo andere zögerten, etwa Oskar Lafontaine in Bezug auf die ökonomischen Konditionen der Wiedervereinigung, hat er entschlossen gehandelt. Lafontaine bekam zwar nachträglich recht, aber Kohl gewann 1990 die Bundestagswahl. Insofern hatte er in dieser Situation zugegebenermaßen den richtigen Riecher. Und keiner weiß, ob ein anderer ebenfalls so leicht die Zustimmung des sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow erhalten hätte, der Besuch Kohls im Februar 1990 in Moskau ist ja von Mythen umrankt. Er hat dort zweifellos alles richtig gemacht und als Staatsmann klug gehandelt.

Für die einen mag Kohl nach wie vor eine Lichtgestalt und ein politisches Vorbild sein. Andere hingegen beurteilen sein Wirken als weniger segensreich. Doch das alles wird man erst wieder mit einigem Abstand erörtern können, denn in diesen Tagen gilt das übliche Motto: De mortuis nil nisi bene (von Toten nur Gutes).

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[1] Der Spiegel 39/1989 vom 25.09.1989