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30. Juli 2017, von Michael Schöfer
Nicolás Maduro trickst


Was ist so schlecht an der Verfassungsgebenden Versammlung in Venezuela? Eigentlich nichts, wenn deren Zusammensetzung wirklich repräsentativ für das Volk wäre. Zur Erinnerung: Bei der Parlamentswahl im Jahr 2015 hat die Opposition 109 von 167 Mandaten errungen - eine unter normalen Umständen beruhigende Zwei-Drittel-Mehrheit. Insofern hätte die Opposition von der Verfassungsgebenden Versammlung, solange das Volk hinter ihr steht, wenig zu befürchten. Doch die Umstände in Venezuela sind schon lange nicht mehr normal. Nicolás Maduro, der umstrittene sozialistische Präsident Venezuelas, trickst auch hier (er hat aus Angst vor dem Wähler bereits die im Dezember 2016 vorgesehenen Kommunalwahlen verschieben lassen).

Von den 545 Sitzen der Verfassungsgebenden Versammlung werden 181 Mitglieder von gesellschaftlichen Sektoren ernannt, die bislang vorwiegend den Sozialisten nahestanden: Arbeiter, Studenten, Rentner, Bauern. Die restlichen 364 Mitglieder werden in den Kommunalbezirken gewählt. Doch Vorsicht: In der Verfassungsgebenden Versammlung sind alle Kommunalbezirke, unabhängig von der Anzahl ihrer Einwohner, gleich stark vertreten, was dicht bevölkerte Großstädte gegenüber dünn besiedelten ländlichen Regionen benachteiligt. Die regierenden Sozialisten haben bei den letzten regulären Kommunalwahlen im Jahr 2013 in vier der fünf größten Städte verloren, darunter in der Hauptstadt Caracas (sowie in Maracaibo, Barquisimeto und Valencia). Demgegenüber waren sie in den ländlichen Regionen die stärkste Kraft. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. So kann sich Maduro die Verfassungsgebende Versammlung nach eigenem Gusto zurechtzimmern und die künftige Verfassung wohl ganz nach seinen Wünschen gestalten.

Schon die Einberufung der Verfassungsgebenden Versammlung per Dekret durch den Präsidenten ist umstritten. Gemäß der aktuell gültigen Verfassung kann nämlich nur das Volk "eine Verfassungsgebende Nationalversammlung (...) einberufen" (Artikel 347). Lediglich die "Initiative zur Einberufung der Verfassungsgebenden Nationalversammlung" kann vom Präsidenten ausgehen (Artikel 348). Ein kleiner, aber nicht unwesentlicher Unterschied. Doch Nicolás Maduro hat sich das Recht, eine Verfassungsgebende Versammlung einzuberufen, kurzerhand selbst erteilt. Viele bewerten das als Verfassungsbruch. Sogar die venezolanische Generalstaatsanwältin Luisa Ortega Díaz, Anhängerin des verstorbenen Präsidenten Hugo Chávez und dessen bolivarischer Revolution, hielt ein Referendum für unabdingbar. Doch der Oberste Gerichtshof gab Maduro recht und bezeichnete die Volksabstimmung als überflüssig. Allerdings muss man zur korrekten Einordnung erwähnen, dass die Zusammensetzung des Obersten Gerichtshofs ebenfalls umstritten ist. Unmittelbar vor der konstituierenden Sitzung des 2015 neu gewählten Parlaments haben die Sozialisten am letzten Sitzungstag des alten Parlaments - ungeachtet des gesetzlich vorgeschriebenen Procederes - mit ihrer Parlamentsmehrheit noch schnell 13 neue Richter sowie 21 Stellvertreter ernannt und mit ihren Anhängern besetzt. Das hat mehr als ein Geschmäckle, andernorts nennt man das Manipulation. Polen lässt grüßen.

Alexander Ulrich, Obmann der Fraktion DIE LINKE im EU-Ausschuss des Deutschen Bundestages, beklagt zu Recht: "Die Regierung Kaczynski hat sich mit sozialpolitischen Versprechen wählen lassen, um nun das Verfassungsgericht zu entmachten und die Medien unter Regierungskontrolle zu bringen. Das ist ein direkter Angriff auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, der in Europa nicht hingenommen werden darf." [1] Alexander Ulrichs Bekenntnis lautet: "Für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie - in Polen und überall." Leider ist "überall" nicht Venezuela (bedauerlicherweise auch nicht in Kuba oder Nicaragua). Motto: Wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe. Zum Angriff auf die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit in Venezuela hört man nämlich von der Linken recht wenig. Im Gegenteil, nach wie vor hält sie der sozialistischen Regierung tapfer die Stange.

Auszug aus einem Beschluss des Linken-Parteitags vom 9. bis 11. Juni 2017 in Hannover: "DIE LINKE verurteilt die Versuche der USA, der EU und der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), die gegenwärtigen Konflikte in Venezuela zu eskalieren und das Land zu destabilisieren, ebenso die ausländische Unterstützung der gewalttätigen Opposition in Venezuela. Diese Einmischung richtet sich einerseits gegen den gewählten Präsidenten Maduro und seine Regierung, andererseits gegen den Integrationsprozess in Lateinamerika, den Venezuela mit initiiert hat. (…) Die gegenwärtige ökonomische und soziale Situation in Venezuela ist angespannt. Die Ursachen dafür liegen aber nicht vorrangig in Fehlern der Regierung Maduro, wie es viele Medien schreiben. (…) DIE LINKE fordert das Ende dieses Wirtschaftskrieges, unter dem die Bevölkerung leidet und der einen Regierungswechsel erzwingen soll. Die Bolivarianische Republik Venezuela, die Regierung Maduro und die Bevölkerung des Landes brauchen in der gegenwärtigen Situation die Solidarität der Linken weltweit in besonderem Maße!" [2] Und die Solidarität bekommt sie auch (Solidaritätsbekundungen der Linken findet man sogar auf der Website der Botschaft Venezuelas in Deutschland). Schuld sind - wie immer - die anderen. Nicht die ökonomische Inkompetenz der sozialistischen Regierung ist die Ursache der Krise, sondern angeblich ein vom Ausland angezettelter Wirtschaftskrieg. Und die diktatorischen Anwandlungen? Egal! Die Wählerinnen und Wähler in Venezuela sehen das aber offenbar anders.

Gegen freie und faire Wahlen in Venezuela wäre überhaupt nichts einzuwenden. Ebenso wenig gegen eine repräsentativ zusammengesetzte Verfassungsgebende Versammlung. Doch das Schauspiel, das uns Maduro bietet, die Tricks, mit denen er arbeitet, sind alles andere als demokratisch. Dass sich die rechte Opposition nicht nur aus lupenreinen Demokraten rekrutiert, steht auf einem anderen Blatt, ist aber keine Rechtfertigung für die Despotie der Sozialisten. Nicolás Maduro scheint für die Linke jedoch ganz in Ordnung zu sein, bei Jaroslaw Kaczynski sieht das erkennbar anders aus. Dabei treten beide jeweils die Verfassung ihres Landes mit Füßen. Das taktische Verhältnis der Linken zur Demokratie, Rechtsstaatlichkeit bloß dann zu verteidigen, wenn sie durch Rechte angegriffen wird, bei Verfassungsverstößen durch Linke indes großzügig ein Auge zuzudrücken (der Zweck heiligt anscheinend die Mittel), macht es schwer, die Partei für wählbar zu erachten. Prinzipien gelten bekanntlich unter allen Umständen. Und man müsste sie gegen jeden verteidigen, ungeachtet durch wen sie missachtet werden. So sieht Demokratie aus. Und nicht anders.

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[1] Die Linke im Bundestag vom 13.01.2016
[2] Die Linke, Hannoverscher Parteitag, Beschlüsse und Resolutionen, Solidarität mit Venezuela!