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12. August 2017, von Michael Schöfer
Donald Trump und die Atomcodes - eine höchst ungesunde Mischung


Auf dem diplomatischen Parkett sagt man sich nur hinter den Kulissen ungeschminkt die Wahrheit, nach außen hin (das, was die Öffentlichkeit präsentiert bekommt) hält man sich vornehm zurück. Nicht, weil die Wahrheit unangebracht oder falsch wäre, sondern weil der höfliche Umgang zum internationalen Standard gehört. Jedenfalls meistens. Alles andere wäre ein Affront. Wenn daher in der Diplomatensprache von einem "offenen Meinungsaustausch" die Rede ist, gab es großen Streit.

Natürlich würde kein Diplomat jemals behaupten, die Amerikaner hätten am 8. November 2016 einen Idiot zum Präsidenten gewählt, selbst wenn es dafür eine Vielzahl von Hinweisen gibt. Bei Donald Trump fällt es einem jedoch furchtbar schwer, diplomatisch zu bleiben. Ist der Mann wirklich ein Volltrottel oder macht er bloß so? Nicht nur, dass Trump im Konflikt mit Nordkorea ständig Öl ins Feuer gießt, was der Atomwaffen besitzende Diktator in Pjöngjang seinerseits hocherfreut erwidert, jetzt glänzt er auch noch mit absolut törichten Äußerungen gegenüber Venezuela.

"Wir haben viele Optionen für Venezuela, einschließlich einer militärischen, falls nötig", sagte Trump in seinem Urlaubsdomizil. [1] "Wir haben Truppen auf der ganzen Welt, an weit entfernten Orten. Venezuela ist nicht sehr weit weg und die Menschen dort leiden und sterben." [2] Ob er das vor oder nach dem Genuss von fünf Gin Tonic äußerte, wurde leider nicht mitgeteilt. Nicolás Maduro beseitigt in Venezuela gerade die Demokratie, und er rechtfertigt das mit der angeblichen Einmischung feindlicher Mächte aus dem Ausland. Ständig wettert er gegen den Imperialismus und schürt die Angst vor einer militärischen Invasion der USA. Das haben bislang nur seine glühendsten Sympathisanten richtig ernst genommen, doch jetzt bekommt er von Trump die Bestätigung sogar frei Haus geliefert. Vermutlich hat Maduro zum Dank dreimal den Namen seines verstorbenen indischen Gurus ausgerufen. Kein Scherz, der Sozialist ist erklärter Anhänger eines gewissen Sathya Sai Baba.

Dass ein verlogener und vulgärer Egomane US-Präsident werden kann, gilt seit der Wahl Trumps als erwiesen. Doch die Welt kann es sich nicht leisten, ein Großmaul mit zweifelhaftem Charakter im Besitz des Atomkoffers (Nuclear Football) zu wissen. Der Mann hat offenbar keine Ahnung und kann sich nicht beherrschen. Wie viel atomcodeausgestattete Impulsivität kann sich die Menschheit erlauben, will sie nicht kollektiv im Hades landen? Wenig. Sehr wenig. "Unser Nukleararsenal wird das größte und beste der Welt", prahlte Trump vor kurzem. "Wir haben viel Geld, viel Zeit und viel Mühe dafür aufgewendet. Und es ist in einer Tip-Top-Verfassung. Und es wird besser und stärker." [3] "Militärische Lösungen sind nun vollständig vorbereitet, geladen und entsichert, sollte Nordkorea unklug handeln. Hoffentlich wird Kim Jong Un einen anderen Weg wählen!", teilte er via Twitter mit.

Natürlich ist das Atomwaffenarsenal der Vereinigten Staaten dem von Nordkorea haushoch überlegen. Laut Hans M. Kristensen und Robert S. Norris von der Federation of American Scientists (FAS) haben die USA derzeit 6.780 Atomsprengköpfe zur Verfügung, davon sind 1.740 einsatzbereit stationiert, 2.740 in Reserve und 2.300 zur Abrüstung markiert, aber noch intakt gelagert. Viel wichtiger als die Anzahl der Atomsprengköpfe ist die Fähigkeit, sie auch ins Ziel zu bringen. Momentan befinden sich 400 Atomsprengköpfe auf Interkontinentalraketen (ICBM) in ständiger Einsatzbereitschaft, 890 auf seegestützten Raketen (SLBM) in Atom-U-Booten und 300 auf großen Bombern. 150 weitere nichtstrategische Atomwaffen sind auf Stützpunkten in Europa verteilt. [4] Nordkorea soll dagegen nach Geheimdiensterkenntnissen über maximal 60 Atomsprengköpfe verfügen, unabhängige Experten sprechen von 20 bis 25. Über die Fähigkeit, sie mithilfe von Interkontinentalraketen zu transportieren, existieren ebenfalls unterschiedliche Ansichten. Allerdings gibt es über Nordkorea kaum zuverlässige Informationen.

Ein Beispiel: Der Münchner Raketenexperte Markus Schiller (ST Analytics) hielt noch im April 2017 das Atomwaffenpotenzial von Nordkorea für überschätzt. Das Land brauche "noch viele Jahre für die Entwicklung einer vollwertigen Interkontinentalrakete mit einer Reichweite bis zur US-Westküste. 'Eine ernsthafte Waffenrakete dürfte noch zehn Jahre dauern, vielleicht länger, abhängig davon, wie viel Arbeit sie tatsächlich hineinstecken', sagt der Ingenieur. 'Auch nach der jüngsten Militärparade bin ich nicht beunruhigt.'" [5] Schiller warnte vor seiner Meinung nach unseriösen Schnellinterpretationen.

Anfang Juli 2017 hörte sich das schon anders an. Es sei zwar "noch sehr schwer abzuschätzen", was die Rakete tatsächlich kann und welche Nutzlast sie zu befördern in der Lage ist, aber sie habe eine Reichweite von 6.000 km und könne damit den US-Bundesstaat Alaska erreichen, kommentierte er einen neuen nordkoreanischen Raketentest. "Es war eine große Leistung", konzedierte Schiller. [6] Aktualisierte Einschätzung: Offenbar hat Nordkorea große Fortschritte gemacht und steht kurz davor, mit Atomwaffen die USA angreifen zu können. Raketenexperte Markus Schiller ist verunsichert und glaubt: "Entweder die Nordkoreaner können zaubern oder sie hatten Hilfe." [7]

Die Ende Juli 2017 getestete Interkontinentalrakete soll sogar eine theoretische Reichweite von 10.000 km gehabt haben, damit rückt die Westküste der USA ins Visier von Kim Jong-un. Die Interkontinentalrakete, die angeblich noch viele Jahre Entwicklung bräuchte, ist also bereits kurz danach Realität. "In Washington hat man sich schlichtweg verrechnet", stellte Die Welt fest. [8] Anscheinend nicht bloß in Washington.

US-Außenminister Rex Tillerson sieht dennoch keinen Grund für schlaflose Nächte. Will heißen: Nur keine Panik. Verteidigungsminister James Mattis verweist auf die überlegene Schlagkraft der US-Streitkräfte, einen Rüstungswettlauf könne Nordkorea nur verlieren. Das stimmt, verkennt aber die verheerende Wirkung von Atomwaffen. Zahlenvergleiche sind in diesem Bereich nämlich weitgehend nutzlos. Das heißt, selbst wenn die USA Nordkorea mit 100 Atomsprengköpfen innerhalb von 15 Minuten auslöschen könnten, woran kein Zweifel besteht, nützen ihr die anderen 1.640 Atomsprengköpfe nichts mehr, denn toter als tot kann man nicht sein. San Francisco und Los Angeles (9.002 bzw. 9.561 km von Pjöngjang entfernt) wären dann aber trotzdem dem Erdboden gleichgemacht, falls die USA die nordkoreanischen Interkontinentalraketen nicht vorher mithilfe der Raketenabwehr abfangen können. Die Entfernung von Pjöngjang nach Washington D.C. und New York beträgt 11.047 bzw. 10.648 km. Das bedeutet: Nordkorea könnte den USA auch mit vergleichsweise wenig Atomsprengköpfen unermesslichen Schaden zufügen. 20 bis 25 Raketen mit einer maximalen Flugzeit von 39 Minuten würden hierfür, sofern sie durchkämen, vollauf genügen. Zumindest was ihre militärischen Fähigkeiten angeht, scheint die kommunistische Erbmonarchie das Ziel fast erreicht zu haben. Von daher ist die Beunruhigung in Washington verständlich, aber das sind eben die üblichen Rahmenbedingungen des Atomzeitalters.

Oft liest man: Das nordkoreanische Regime wolle nur überleben, Diktator Kim Jong-un sei weder lebensmüde noch verrückt. Nordkorea wolle lediglich als Atommacht anerkannt werden, die Drohung mit dem "totalen Krieg" sei folglich nicht ernst zu nehmen. Klingt nach: Der will bloß spielen. Ein bisschen Säbelrasseln, nicht mehr. Doch was weiß man von Kim Jong-un? Eigentlich extrem wenig. Die Einschätzungen der Journalisten und selbsternannten Nordkorea-Experten könnten auf "sozialer Projektion" und mithin auf einem Irrtum beruhen: Sie neigen unbewusst dazu, ihre eigenen Denkschemata auf Kim Jong-un zu übertragen. Ob ihr Urteil zutrifft, steht auf einem anderen Blatt. Genau das macht es so schwer, die wirklichen Motive der nordkoreanischen Führung herauszufinden. Der 33-jährige Diktator wurde von Kindesbeinen an durch einen bizarren Persönlichkeitskult und eine politische Kultur, die keinerlei Widerspruch duldet, geprägt. Wer so aufwächst, hat - um es vorsichtig zu formulieren - einen speziellen Zugang zur Realität. Nordkoreas Drohung, vier Mittelstreckenraketen rund 30 bis 40 km vor der Pazifikinsel Guam im Meer aufschlagen zu lassen, ist das Vabanquespiel eines Hasardeurs. Oder der Plan eines Wahnsinnigen. Obendrein ist Kim Jong-un völlig skrupellos, was Berichte über Hinrichtungen innerhalb des engeren Führungszirkels belegen. Auch seinen Halbbruder ließ er ermorden. Ob er für vernünftige Argumente überhaupt zugänglich ist, bleibt daher offen.

Bedauerlicherweise gilt für Donald Trump das Gleiche, was die gegenwärtigen Spannungen so gefährlich macht. Trump ist schroff und undiplomatisch, außerdem hat er ebenfalls einen speziellen Zugang zur Realität. Seine zahlreichen Lügen sind legendär, und keiner weiß, was er davon wirklich glaubt. Da selbst ein begrenzter Atomkrieg auf dem gesamten Planeten schwere Schäden verursachen würde (radioaktiver Fallout; viel Staub und Ruß in der Atmosphäre; abrupte Änderungen des Klimas, daraus resultierende Hungersnöte; Schäden an der Ozonschicht etc.), sollte das jeden Erdbewohner interessieren. Wir sind in Europa vor den Folgen keineswegs gefeit. Da ist ein - Verzeihung - impulsiver Volltrottel im Besitz der Atomcodes unglaublich belastend. Donald Trump ist für eine so brenzlige Situation schlicht und ergreifend der falsche Mann, er bräuchte wesentlich mehr als bloß einen Grundkurs in Diplomatie. Es ist schwer zu ertragen, wenn klar wird, dass der wichtigste Entscheidungsträger über einen unzureichenden Intellekt verfügt. Klar, bei Trump ist alles großartig, vor allem er selbst. Aber mit dummem Geschwätz und Schulhofprahlerei kommen wir nicht weiter. Warum haben die Amerikaner nicht gemerkt, dass Trump gefährlich ist - für ihre eigene Existenz und die des ganzen Planeten? Jetzt haben wir den Salat.

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[1] Die Welt-Online vom 12.08.2017
[2] Süddeutsche vom 12.08.2017
[3] tagesschau.de vom 11.08.2017
[4] Bulletin of the Atomic Scientists, United States nuclear forces 2017, PDF-Datei mit 926 kb
[5] Die Welt-Online vom 16.04.2017
[6] Die Welt-Online vom 04.07.2017
[7] Spiegel-Online vom 04.07.2017
[8] Die Welt-Online vom 10.08.2017