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26. September 2017, von Michael Schöfer
Wir haben verstanden! Haben wir tatsächlich verstanden?


Noch vor kurzem wurde Deutschland als Hort der Stabilität wahrgenommen und Angela Merkel (CDU) als "die letzte Verteidigerin des liberalen Westens" bezeichnet. Alles mit einem Schlag (12,6 % für die AfD) vorbei. So scheint es jedenfalls. Und plötzlich geben sich die Politiker geläutert. Die gesamte Republik besteht offenbar nur noch aus Verstehern. "Wir haben verstanden", sagt CSU-Parteichef Horst Seehofer. Ein "Weiter so" könne es nicht geben. Das hat, man höre und staune, der CSU-Parteivorstand sogar einstimmig (!) bekräftigt. "Wir haben verstanden", beteuert auch die SPD und geht angesichts ihres Wahldebakels in die Opposition. Doch haben sie wirklich verstanden? Zweifel daran sind berechtigt, denn solche Floskeln hört man immer wieder. "Wir haben verstanden", verkündete zum Beispiel der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD), als die SPD 1999 die Europawahl verlor (-1,5 %). Bedauerlicherweise hatte er überhaupt nichts verstanden und leitete später mit seiner Agenda-Politik den Niedergang der Sozialdemokratie ein. Über 30,7 Prozent, die die SPD 1999 bekam, würden sich die Sozis heute unbändig freuen.

Ob das politische Establishment anno 2017 tatsächlich verstanden hat, muss sich erst noch zeigen. Worte allein reichen dafür keinesfalls aus. Rechtspopulisten kommen nicht aus dem Vakuum, ihr Erfolg hat Ursachen. Und die Flüchtlingsfrage ist dabei nur ein Aspekt unter vielen. Als Jörg Haider 1986 die Führung der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) übernahm, lag der Ausländeranteil unseres Nachbarlandes unter 5 Prozent, dennoch hat die FPÖ bei der Nationalratswahl des gleichen Jahres ihren Stimmanteil von 4,98 Prozent auf 9,73 Prozent nahezu verdoppelt. 1990, als die FPÖ ihren Stimmanteil abermals kräftig auf 16,64 Prozent erhöhte, betrug er lediglich 5,9 Prozent. Erst zu Beginn der neunziger Jahre kam es in Österreich zu einer stärkeren Zuwanderung. In Ungarn und Polen, wo heute Rechtspopulisten regieren, liegt der Ausländeranteil (einschließlich der EU-Ausländer) bei 1,6 bzw. 0,4 Prozent.

Zweifellos hat die Aufnahme von Flüchtlingen der AfD Ende 2015 Auftrieb verschafft, doch sollte man bei der Beurteilung ihres Erfolgs die soziale Frage nicht ausklammern. Trotz des Slogans der Union, "Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben", sind viele Menschen keineswegs auf Rosen gebettet. Die soziale Ungleichheit nimmt zu, das hat die Bundeskanzlerin mit ihrer rosaroten Wohlstandssauce bloß zukleistern wollen. Erfolglos, denn die Wählerinnen und Wähler können ihre eigene Situation viel besser einschätzen als Parteipropagandisten. Hinzu kommt die immer dramatischere Situation auf dem Wohnungsmarkt. Die Mietpreise explodieren, inzwischen sind Wohnungen in den Ballungsräumen selbst für die ohnehin erodierende Mittelschicht häufig unerschwinglich. Von den horrenden Kosten für Eigentumswohnungen ganz zu schweigen. Natürlich machen sich angesichts der guten Arbeitsmarktlage deutlich weniger Menschen Sorgen um ihren Arbeitsplatz, die Angst vor dem drohenden sozialen Abstieg ist ungeachtet dessen weit verbreitet, dafür sorgt die latente Bedrohung durch Hartz IV. Und die Aussichten auf die spätere Rente sind alles andere als verheißungsvoll.

Haben die Parteien wirklich verstanden? Ausgerechnet die Parteien, die das Ganze mit ihrer unsozialen Politik der letzten Jahrzehnte zu verantworten haben? In Wahrheit hatten bei ihnen die Interessen der Unternehmen stets Vorrang vor den Interessen der Arbeitnehmer. Und das soll sich jetzt plötzlich ändern? Warten wir es ab. Die Erfahrung zeigt allerdings, dass die Politiker nach dem Abklingen des ersten Schocks sehr schnell in die eingefahrenen Gleise zurückfinden. Einerseits sagt die CDU: "Wir wollen die Wähler der AfD mit guter Politik zurückholen." Andererseits sagt die Bundeskanzlerin trotz des Verlusts von 8,6 Prozentpunkten: "Ich sehe nicht, was wir anders machen sollten." Wie das Zurückholen der AfD-Wähler unter diesen Voraussetzungen gelingen soll, ist vollkommen schleierhaft. Wenn man die Kanzlerin richtig interpretiert, soll es also ein "Weiter so" geben - eben bloß geschickter verpackt als das bislang der Fall war. Und womöglich mit einer anderen Koalition (Jamaika). Ich fürchte, das kann nicht gelingen. Wer das notwendige Umsteuern lediglich als kosmetischen Akt begreift, wird scheitern. Knapp 13 Prozent für die rechtspopulistische AfD sind keine ernsthafte Bedrohung für die Demokratie, aber wenn sich an der Politik nichts substanziell ändert, kann sie sich durchaus zu einer solchen entwickeln.