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01. Oktober 2017, von Michael Schöfer
Vorurteile werden leider häufig bestätigt


Die Bindungswirkung der Demokratie lässt nach. Warum? Vielleicht, weil wir unsere eigenen Prinzipien in der Realität nicht allzu ernst nehmen. Beispiel Selbstbestimmungsrecht der Völker: In Sonntagsreden und Deklarationen bekennen wir uns gerne dazu, doch in der Praxis haben oft andere Interessen Vorrang. Die Kurden des Nordirak haben aufopferungsvoll an der Seite einer internationalen Staatenkoalition gegen den sogenannten Islamischen Staat gekämpft, die Peschmerga waren im Kampf gegen den IS gewissermaßen die Bodentruppen des Westens. Nun streben sie die Unabhängigkeit an, haben aber plötzlich ihre bisherigen Verbündeten gegen sich. Die USA wollen das Unabhängigkeits-Referendum nicht anerkennen. "Wir haben den Kurden schon 1920 einen unabhängigen Staat versprochen, aber unser Versprechen nicht erfüllt", sagt dagegen der frühere französische Außenminister Bernard Kouchner. [1] Er spielt damit auf den Vertrag von Sèvres vom 10. August 1920 an. Die entscheidende Frage lautet: Was ist uns das Selbstbestimmungsrecht der Völker wirklich wert? Waren das nur Sprechblasen?

Doch man braucht gar nicht so weit zu gehen, auch in Europa entpuppt sich das Gerede vom Selbstbestimmungsrecht als Worthülse. Natürlich darf man über die Unabhängigkeitsbestrebungen Kataloniens geteilter Meinung sein, aber was sich die spanische Zentralregierung heute geleistet hat, tritt die vielbeschworenen westlichen Werte im wahrsten Sinne des Wortes mit Füßen. Das, was wir uns im Privaten nie erlauben würden, den Ehepartner mit dem Gummiknüppel von der Trennung abzuhalten, hat sich der spanische Ministerpräsident Mariano Rajoy herausgenommen: Er will Barcelona mit polizeilichen Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Ehe mit Madrid zwingen. Dass dies nicht zu einer gedeihlichen Gemeinschaft beiträgt, dürfte jedem klar sein. Rajoy, so ist zu befürchten, hat damit der Radikalisierung Vorschub geleistet. Er blockiert seit Jahren eine demokratische Willensbekundung der Katalanen. Aber wenn demokratische Mechanismen unterbunden werden, was folgt dann stattdessen? Eigentlich kann man sich die Antwort an den fünf Fingern einer Hand abzählen. Rajoy hat seinem Land einen Bärendienst erwiesen.

Die Demokratie entfaltet generell immer weniger Bindungswirkung, es gibt offenbar viel zu viele Verlierer und es wird allzu zu oft den Partikularinteressen der Gewinner nachgegeben. Solange die Gesellschaft immer weiter auseinanderdriftet, braucht man sich über den ruppiger werdenden Umgangston und die Erfolge der Rechtspopulisten nicht zu wundern. Und über Brexit-Ergebnisse ebenso wenig. Apropos Umgangston: In Österreich soll die SPÖ eine Schmutzkampagne gegen den ÖVP-Vorsitzenden Sebastian Kurz in Auftrag gegeben haben. "Wir wollen die Köpfe und Herzen nicht dem billigen Populismus überlassen", bekräftigte der österreichische Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) nach seiner Amtsübernahme in einer Regierungserklärung. Es gehe darum, das "Schauspiel der Machtversessenheit und Zukunftsvergessenheit" zu beenden. Er wolle verlorengegangenes Vertrauen zurückgewinnen. "Menschen haben Ängste, aber es macht keinen Sinn, sie in ihren Ängsten zu stärken", zitierte Kern den Historiker Fritz Stern. [2] Wohlgesetzte Worte - er hätte sich bloß selbst daran halten müssen.

Es überrascht kaum, dass die Bürgerinnen und Bürger glauben, von skrupellosen Zynikern und verlogenen Heuchlern regiert zu werden. Derartige Pauschalkritik ist womöglich überzogen, allerdings tut die Politik herzlich wenig dafür, diesem Eindruck energisch entgegenzutreten. Im Gegenteil, einschlägige Vorurteile werden leider häufig bestätigt. Eine offenbar unausrottbare menschliche Schwäche, gewiss, aber um die Zukunft der Demokratie kann es einem angst und bange werden.

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[1] Telepolis vom 26.09.2017
[2] Spiegel-Online vom 19.05.2016