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21. Dezember 2017, von Michael Schöfer
Noch ist Polen nicht verloren


Am Anfang der neuzeitlichen Demokratie stand die unerschütterliche Überzeugung: Dass die Menschen frei und gleich an Rechten geboren sind und es auch bleiben (Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789). Dass Leben und Freiheit zu den unveräußerlichen Rechten der Menschen gehören und zur Versicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingeführt worden sind, welche ihre gerechte Gewalt von der Einwilligung der Regierten herleiten. Dass es ferner das Recht des Volks ist, sie zu verändern oder abzuschaffen, und eine neue Regierung einzusetzen, die auf solche Grundsätze gründet (Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika vom 4. Juli 1776). Das war nichts anderes als die Inthronisation des Demokratieprinzips und die damit einhergehende Ablehnung des monarchischen Gottesgnadentums. Nicht umsonst beginnt die Verfassung der Vereinigten Staaten mit "We the People" (Wir, das Volk). Auch die französischen Revolutionäre bekräftigten: "Der Ursprung jeder Souveränität liegt ihrem Wesen nach beim Volke." Also weder bei Gott noch König. Auf welchem Fundament sonst könnte die Gesellschaft ruhen, gäbe sie je ihre in harten Kämpfen errungene Selbstgewissheit auf? Die einzige Alternative wäre die Willkürherrschaft.

Eingedenk der Gefahr, die Menschen durch ihresgleichen droht, wurden mit der Demokratisierung zugleich auch die unabänderlichen Prinzipien des menschlichen Miteinanders festgeschrieben: Gewaltenteilung, Redefreiheit, Rechtsstaatlichkeit. Weil die Menschen naturgemäß zu Habgier und Unduldsamkeit neigen, muss die Gesellschaft vor dem Machtmissbrauch Einzelner geschützt werden. Eine Demokratie ohne die Verwirklichung des Demokratieprinzips ist keine Demokratie, sie ist dann bestenfalls eine potemkinsche Fassade. Andererseits muss die Gesellschaft aber auch vor der Tyrannei der Mehrheit geschützt werden, die demokratischen Prinzipien entziehen sich folglich durch eine Bestandsgarantie jedem wesensändernden Mehrheitsbeschluss. Genau das passiert jedoch momentan in Polen: Die Parlamentsmehrheit hat die Substanz der Demokratie im Fadenkreuz.

Wenn die Europäische Gemeinschaft ihre demokratische Substanz behalten will, ist das Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags unumgänglich. Die Werte der EU wurden in der Charta der Grundrechte festgeschrieben, sie beruhen auf den Grundsätzen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. Eine Gesellschaft, die diese Prinzipien missachtet, verliert ihre Legitimation und trudelt orientierungslos dahin. Die entscheidende Frage ist also nicht, ob man Artikel 7 anwendet, sondern ob man Polen dadurch wieder auf das demokratische Fundament zurückführen kann. Und natürlich, was man tut, falls das misslingt. Der Entzug der Stimmrechte wird voraussichtlich an Ungarn scheitern, weil die dort regierende Fidesz von Ministerpräsident Viktor Orbán ebenfalls autokratische Anwandlungen zeigt und Autokraten untereinander solidarisch sind. Ein nicht zu unterschätzendes Problem für die gesamte EU. Der gesellschaftliche Kitt beginnt spürbar zu bröckeln.

Die Demokratie kann ihren Feinden nur widerstehen, wenn entscheidende Institutionen wie die Justiz aus Überzeugung an ihr festhalten. Wenn sich nahezu alle Institutionen bereitwillig der Autokratie beugen, wie es gegenwärtig in der Türkei zu beobachten ist, kann sie binnen kurzem implodieren. Es gibt zwar keinen hundertprozentigen Schutz, aber wir können und müssen Institutionen prophylaktisch gegen Übergriffe härten. Das ist der Sinn von Artikel 7, allerdings ist der Schutz hier mangelhaft umgesetzt worden. Was tun, wenn das Verfahren weder in puncto Polen noch in puncto Ungarn hilft? Und wer weiß, vielleicht demnächst ebenso wenig im Hinblick auf Österreich. Ein Gedanke, der hierzulande zuletzt vom SPD-Vorsitzenden Martin Schulz geäußert wurde, könnte durchaus nützlich sein: Die Gründung der Vereinigten Staaten von Europa auf der Grundlage eines gemeinsamen Verfassungsvertrags. Gewissermaßen ein gehärtetes Kerneuropa. Und die, die das nicht akzeptieren, bleiben eben außen vor. Letzteres selbstverständlich unter Inkaufnahme der damit verbundenen Nachteile, was die finanzielle Unterstützung, den militärischen Beistand, den Freihandel und die Freizügigkeit ihrer Bürger angeht. Zugegeben, derzeit noch eine unrealistische Vision, aber in meinen Augen besser als das langsame Dahinsiechen. Nur wenn wir uns dem Niedergang der EU aktiv entgegenstemmen, kann sie überleben.

Noch ist Polen nicht verloren, denn das polnische Volk hat die Macht, das Ruder herumzureißen und den fatalen Kurs des Landes zu korrigieren. Bei der Parlamentswahl im Jahr 2015 kam die regierende PiS auf lediglich 37,6 Prozent der Stimmen, nur durch das komplexe Wahlsystem mit unterschiedlichen Sperrklauseln konnte die nationalkonservative Partei von Jaroslaw Kaczynski im Parlament die absolute Mehrheit der Mandate erringen. Das kann sich aber 2019 wieder ändern (falls es dann noch freie Wahlen geben sollte). Die Polen haben es also selbst in der Hand. Wenn das scheitert, muss die EU zwangsläufig den oben beschriebenen Weg der Weiterentwicklung gehen. Sie leidet ohnehin bereits unter einem Demokratiedefizit und wird von den Bürgerinnen und Bürgern auf Dauer nur akzeptiert, wenn sie die demokratischen Prinzipien verwirklicht. Andernfalls zerfällt sie peu à peu in mehr oder minder autokratische Bestandteile, die nur noch lose miteinander verbunden sind. Das Stigma, ein Projekt der Eliten zu sein, bliebe auf ewig an der EU haften. Von den meisten verachtet würde sie am Ende schlicht überflüssig, weil sich die Völker auf den Nationalstaat zurückbesinnen. Das ist zwar nicht zu begrüßen, wäre aber die unvermeidbare Folge ihres eigenen Unvermögens. Es steht daher viel auf dem Spiel.