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21. November 2017, von Michael Schöfer
FDP führt eigenes Programm ad absurdum


Die reine Lehre zu vertreten, übte schon von jeher einen besonderen Reiz aus. Doch Kompromisslosigkeit hat auch ihren Preis: Man findet keine Verbündeten. Besser gesagt, man will gar keine Verbündeten finden. Und zwar deshalb, weil man dann zwangsläufig von der reinen Lehre abweichen müsste. Die Fundamentalisten in den Anfangsjahren der Grünen waren daher genauso auf dem Holzweg wie es die Fundamentalisten der Linkspartei heute noch sind. Fundamentalismus bedeutet letztlich Politikunfähigkeit. (Was aber im Umkehrschluss nicht heißt, dass dem Beliebigkeit vorzuziehen wäre.)

"Schauen wir nicht länger zu!", steht über der Präambel des FDP-Bundestagswahlprogramms 2017. "Jetzt ist der Zeitpunkt, an dem es nicht mehr reicht zuzuschauen. Wir müssen etwas tun - schauen wir nicht länger zu!" Das Wahlprogramm wurde erst im April 2017 beschlossen, doch nun ist alles anders. Nun entpuppt sich die Lindner-FDP zur Überraschung des geneigten Publikums ebenfalls als ein Hort von Fundamentalisten. Nach ihrem plötzlichen Rückzug von den Jamaika-Sondierungsgesprächen tut die Partei genau das: zuschauen - ohne etwas zu tun. Und das sogar freiwillig. Warum? Der reinen Lehre wegen. "Besser nicht regieren, als falsch", lautet ihr aktuelles Motto. Ob sie damit am 24. September 10,7 Prozent bekommen hätte?

Wenn es zu Neuwahlen kommt, stellt sich unwillkürlich die Frage, welche Machtoptionen die FDP im Köcher hat. Mit welchem Anspruch gehen die Liberalen in die nächste Bundestagswahl? In der Opposition zu sitzen? Dann könnte man auf die Parlamentszugehörigkeit auch gleich ganz verzichten, in der Opposition ist man nämlich ohnmächtig. Aber wenn es ihr erklärtermaßen "nicht mehr reicht zuzuschauen" - mit wem will sie dann koalieren? Glaubt sie tatsächlich, Schwarz-Gelb hätte beim nächsten Mal eine reelle Chance auf die Mehrheit der Mandate? Dazu müssten CDU, CSU und FDP noch ordentlich zulegen, momentan sind sie rund 10 Prozent davon entfernt. Sollte Schwarz-Gelb abermals die Mehrheit verfehlen, kann die FDP wohl kaum da weitermachen, wo sie am Sonntagabend mit einem lauten Knall aufgehört hat. Bei erneuten Jamaika-Sondierungsgesprächen oder gar beim Zustandekommen einer Jamaika-Koalition würde die FDP ihre derzeitige Haltung ad absurdum führen. Die Lindner-FDP verlöre massiv an Glaubwürdigkeit. Sie würde zu jenem Punkt zurückkehren, an dem Philipp Rösler und Rainer Brüderle einst ihr Fiasko erlebten. Keiner würde sie richtig ernst nehmen, alle würden sich über sie lustig machen. Mit anderen Worten: Der FDP fehlt bei Neuwahlen jede plausible Machtoption. Und in diese Sackgasse hat sie sich mit dem fundamentalistischen Anspruch, lieber die reine Lehre zu vertreten, als schmerzhafte Kompromisse einzugehen, selbst hineinmanövriert.