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04. November 2017, von Michael Schöfer
Neuwahlen sind keineswegs der einzige Ausweg


Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Sondierungsgesprächen und Koalitionsverhandlungen? Das kann man Außenstehenden momentan nur schwer vermitteln. Salopp formuliert ist die Sondierung die Erforschung, ob überhaupt etwas gehen könnte. Allerdings macht die Jamaika-Koalition in spe den Eindruck, dass schon kräftig verhandelt wird. Der Übergang zwischen beidem ist jedenfalls fließend.

Derzeit gibt es offenbar viele strittige Punkte, so dass bereits über Neuwahlen spekuliert wird. Und mancher bläst dabei kräftig die Backen auf. Die FDP habe keine Angst vor einer Neuwahl, sagt beispielsweise der stellvertretende FDP-Vorsitzende Wolfgang Kubicki. Was Neuwahlen lösen sollen, erschließt sich dem Beobachter jedoch nicht. Nach den aktuellen Umfragen würden sie fast genauso ausgehen, wie die Bundestagswahl am 24. September. Der Gewinn für die Sondierenden wäre gleich null, der Imageverlust hingegen riesengroß. Möglicherweise würde sogar die AfD am meisten von Neuwahlen profitieren, weil die demokratischen Parteien dadurch ihre Unfähigkeit zum Kompromiss dokumentieren. Solange wählen lassen, bis das Ergebnis den Damen und Herren genehm ist? Schon allein der Gedanke daran verbietet sich von selbst, denn am Ende wäre der Schaden für die Demokratie womöglich irreparabel.

Doch selbst wenn keine Jamaika-Koalition zustande kommt, sind Neuwahlen keineswegs der einzige Ausweg, zumal sie vermutlich - siehe oben - gar nichts zur Lösung beitragen. Laut Artikel 63 Abs. 4 Grundgesetz kann der Bundeskanzler/die Bundeskanzlerin im dritten Wahlgang auch mit einfacher Mehrheit gewählt werden. Die Union könnte folglich Angela Merkel aus eigener Kraft durchsetzen, die anschließend gezwungenermaßen ein Minderheitskabinett bilden müsste (eventuell unter Beteiligung der FDP). Sie muss sich dann für Gesetze jeweils eine Mehrheit suchen. Zur Durchsetzung derselben kann Merkel die Vertrauensfrage stellen und mit Neuwahlen drohen. Doch erstens müssten dafür - siehe oben - auch die Umfragewerte stimmen, um der Drohung Gewicht zu verleihen. Und zweitens kann der Bundespräsident bei verlorener Vertrauensfrage zwar gemäß Artikel 68 Abs. 1 GG den Bundestag auflösen, muss es aber nicht. Andererseits, Stichwort Stabilität, sitzt ein einmal gewählter und ernannter Kanzler ziemlich fest im Sattel. Keiner kann ihn zum Stellen der Vertrauensfrage zwingen, für das konstruktive Misstrauensvotum wiederum ist laut Artikel 67 Abs. 1 GG die Kanzlermehrheit (Mehrheit der Mitglieder des Bundestages) notwendig. Gewiss, ein Spiel mit Risiko, aber immer noch wesentlich besser als im Falle des Scheiterns von Jamaika neu wählen zu lassen.