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11. September 2017, von Michael Schöfer
Der Balkon als Risiko


Was wird vom Sommer 2017 im Gedächtnis haften bleiben? Kim Jong-un und die Bombe? Die schlimmen Naturkatastrophen? Die Heimniederlagen meines Fußballvereins? Mich haben ja die Balkonabbrüche schwer beeindruckt. Echt! In Groß-Bieberau ist an einem neu errichteten Seniorenzentrum ein Balkon abgebrochen. Zum Glück gab es weder Tote noch Verletzte. Weniger Glück hatten ein Vater und sein Sohn in Nussloch. Als der Balkon ihrer Wohnung abbrach, fielen sie aus dem 2. Obergeschoss in die Tiefe. Beide überlebten. Auch im Münchner Stadtteil Obergiesing ist in diesem Jahr ein Balkon abgebrochen. In Remscheid ebenso. Flugzeugabstürze schocken alle, doch eine ungleich größere Gefahr sind offenbar unsere Balkone. Ich habe ebenfalls einen Balkon. Und im Sommer sitze ich dort ziemlich oft in der Sonne und lese ein Buch. Oder genieße einfach bloß die Wärme. Bis zum Erdboden sind es geschätzte 20 Meter, meine Wohnung befindet sich nämlich im 4. Obergeschoss. Ein mulmiges Gefühl.

Falls man von dort in die Tiefe fällt, schlägt man hoffentlich mit dem Kopf voraus auf dem Betonboden auf. Bestimmt ein absolut schmerzfreier Tod. Bis der Schmerzreiz im Gehirn ankommt, ist es längst futsch. Das eigentliche Problem ist der freie Fall, bei 9,81 m/s dauert er immerhin 2,02 Sekunden. 2,02 Sekunden Todesangst. Ob man einen solchen Sturz überleben will, glaube ich kaum. Die körperlichen Einschränkungen für den Rest des Lebens wären gewiss immens. Doch das muss jeder für sich selbst entscheiden. 2017 habe ich jedenfalls überlebt. Und da es nun kühler wird, dürfte das Risiko bis zum Frühjahr 2018 vernachlässigbar sein. Helmpflicht auf dem Balkon? Sicherungsseile wie beim Bergsteigen? Hilft nichts oder ist lächerlich. Die einzige Methode, den Absturz hundertprozentig auszuschließen, besteht darin, den Balkon nie wieder zu betreten. Aber wir steigen ja auch immer wieder in Flugzeuge, obwohl die gelegentlich abstürzen. Der Mensch verdrängt gerne. Muss verdrängen. Würden wir Risiken wirklich ernst nehmen, müssten wir alle Autos meiden. Das machen natürlich nur wenige. Mir geht es mit meinem Balkon genauso.