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11. Juli 2017, von Michael Schöfer
Die Grenze ist erreicht


Ich habe nichts gegen alternative Lebensentwürfe. Ganz im Gegenteil. Man darf Vegetarier, Veganer oder Fleischfresser sein, im Hochsommer Anzug und Krawatte tragen oder im Schlabberlook daherkommen. Traditionelle Kleinfamilie, Patchwork-Family, Wohngemeinschaft oder Singlehaushalt, herkömmlicher Nine to five-Job oder Start-up-Gründer mit Selbstausbeutungsgarantie, gegen- oder gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft - m.E. darf jeder so leben, wie er es für richtig hält. Zumindest solange er die Rechte anderer achtet. Ohnehin gibt es nicht den Lebensentwurf. Das ist eine individuelle Entscheidung, für die es keinen allgemeingültigen Maßstab gibt. Nur Spießer glauben, eine universelle Richtschnur zu brauchen.

Die Grenze ist allerdings erreicht, sobald Gewalt ins Spiel kommt, wenn jemandem ein bestimmter Lebensstil aufgezwungen werden soll. In Hamburg ist am Rande des G20-Gipfels eine gewalttätige Intoleranz zutage getreten, die schlicht und ergreifend inakzeptabel ist. Und das ausgerechnet von denen, die für sich selbst in Anspruch nehmen, von der übrigen Gesellschaft toleriert zu werden. Offenbar haben wir viel zu lange weggesehen, die Fehlentwicklung bewusst ignoriert. In Hamburg hat sich rund um den Kristallisationspunkt "Rote Flora" eine linksextreme Subkultur entwickelt, die Gewalt duldet bzw. mitunter sogar fördert.

Würden wir das Rechtsextremen durchgehen lassen? Bei denen hieße so etwas wahrscheinlich "national befreite Zone". Im Schanzenviertel bezeichnet man das euphemistisch als Alternativkultur. Wenn Rechtsextreme irgendwo in Deutschland seit fast 30 Jahren ein Gebäude besetzt hielten, um dort ungestört ihren Machenschaften nachgehen zu können, würde unsere Gesellschaft dem keinesfalls tatenlos zuschauen. Und das vollkommen zu Recht.

Die Vernünftigen, die einsehen, dass Anarchie zerstört, aber nichts aufbaut, müssen sich davon endlich glaubhaft distanzieren. Regeln generell abzulehnen, ist absolut töricht. Momentan herrscht im Schanzenviertel gewissermaßen das Recht des Stärkeren. Wer die meisten Schläger aktivieren kann (mögen sie sich auch für Revolutionäre halten), dominiert das Geschehen. Jedenfalls temporär. Doch sieht so die bessere Welt aus, die viele unzweifelhaft anstreben? Wohl kaum. Ich stelle mir vor, das Schanzenviertel wäre längere Zeit eine sich selbst überlassene Insel weitab vom Festland. Was würden wir dort nach ein paar Jahrzehnten bei einem Besuch antreffen? Meiner Überzeugung nach kein alternatives Paradies, sondern eine Insel der Tyrannei. Homo homini lupus (der Mensch ist dem Menschen ein Wolf) gilt erfahrungsgemäß auch für die, die sich auf der richtigen Seite wähnen. Letzteres entpuppte sich nämlich allzu oft als Hybris.