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30. Juni 2017, von Michael Schöfer
Alle haben etwas bekommen


Dietmar Bartsch von den Linken macht es sich natürlich zu leicht, wenn er im Bundestag feststellt: "Lieber Thomas Oppermann, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich habe Sie ja selten so gelöst erlebt wie heute. Ich will aber schon anmerken: Das hätten Sie natürlich die ganzen vier Jahre über haben können. Wir hätten doch so viel an fortschrittlicher Politik hier im Deutschen Bundestag beschließen und umsetzen können. Das wäre doch wunderbar gewesen." Rot-Rot-Grün mag in dieser besonderen Situation (Ehe für alle) gehen, aber in vielen anderen Fragen gibt es nach wie vor große Differenzen. Oppermann ist eben kein Corbyn. Auch ob der Wähler so eine Koalition goutieren würde, ist offen. Sie würde aber schon allein an den SPD-Bundestagsabgeordneten scheitern, die sind nämlich mehrheitlich ebenfalls keine Corbyns. Und ob es einem gefällt oder nicht, Merkel ist im Volk nach wie vor beliebt. Die SPD hätte sich ein Umschwenken zu Rot-Rot-Grün folglich gar nicht leisten können.

Der Focus macht es sich aber ebenfalls zu leicht, wenn er am Vortag titelt: "Theoretisch könnte Merkel am Freitag alle SPD-Minister entlassen." Bloß um staatstragend hinzuzufügen, dass es unverantwortlich wäre, das Land in eine Regierungskrise zu stürzen. Würde Merkel wegen der heutigen Abstimmung die Koalition aufkündigen und alle SPD-Minister entlassen (was paradox wäre, schließlich stimmten auch 75 Unionsabgeordnete mit Ja), sähe sie sich wahrscheinlich mit einem konstruktiven Misstrauensvotum konfrontiert. Denn in so einem emotionalen Moment könnte die rechnerische rot-rot-grüne Mehrheit auch tatsächlich für die Wahl eines sozialdemokratischen Kanzlers reichen. Aber eben nur, wenn die Emotionen hochkochen. Außerdem ist Angela Merkel viel zu gerissen, um einen solch kapitalen Fehler zu begehen.

Nein, der Tag lief doch prima: Die Befürworter der Ehe für alle haben sie bekommen und dürfen feiern. Konservative und liberale Anhänger der Union haben jeweils etwas bekommen. An der Union haftet nicht mehr das Etikett, Parteien der Ewiggestrigen zu sein. Hätten CDU und CSU geschlossen dagegen gestimmt, sähe das anders aus. Und das Thema, mit dem Merkel im Wahlkampf und in den anschließenden Koalitionsverhandlungen keinen Blumentopf gewonnen hätte, ist vom Tisch. Allenfalls eine Klage von Abgeordneten der Union vor dem Bundesverfassungsgericht könnte ihr da einen Strich durch die Rechnung machen. Obwohl Merkel gegen die Ehe für alle gestimmt hat, dürfte sie sich wohl diebisch freuen. Aus ihrer Sicht die einzige Gefahr: Dass die SPD durch die gewonnene Abstimmung im Wahlkampf einen Sympathieschub erhält (den Schulz-Hype 2.0).