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28. April 2017, von Michael Schöfer
Alles wieder gut? Vergeben und vergessen?


Schön, wie sie sich wieder herzen, die EU-Außenminister und deren türkischer Kollege Mevlüt Cavusoglu. Küsschen rechts, Küsschen links. Alles wieder gut? Vergeben und vergessen? Die absurden Faschismusvorwürfe? Die Androhung von Religionskriegen? Die unbeschreibliche Arroganz und aggressiven Hetzreden? Die Verhaftungswellen? Die Schließung von Zeitungen? Die Änderung der Verfassung? Die Ungereimtheiten bei der Abstimmung? Die beabsichtigte Einführung der Todesstrafe? Vize-Regierungschef Simsek hat ja sogar wieder um deutsche Wirtschaftshilfe gebeten. Ob er sie wohl bekommt? Wer dachte, der Umgang mit der Türkei hätte den Boden der Peinlichkeit erreicht, sieht sich getäuscht. Die Peinlichkeitsskala ist offenbar nach unten offen. Und die EU ist anscheinend gewillt, deren Tiefe auszuloten. Es ist nicht zu fassen.

Nur Österreich ist für den Abbruch der Türkei-Beitrittsverhandlungen. Ich kann dem österreichischen Außenminister Sebastian Kurz nur beipflichten, Ankara hat die rote Linie schon lange überschritten: "Die rote Linie ist für mich auch überschritten, wenn Andersdenkende eingeschüchtert werden, Journalisten eingesperrt werden, Oppositionelle verfolgt werden. Das sind alles rote Linien, die überschritten wurden. Die Einführung der Todesstrafe wäre nur eine weitere." Er wies zu Recht auf die Kopenhagener Kriterien hin, die 1993 beschlossenen Bedingungen für den Beitritt der Türkei: Rechtsstaat, Demokratie, Menschenrechte. Die EU geriert sich wie eine Wertegemeinschaft ohne Werte. Vollkommen desolat und geschichtsvergessen.