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20. März 2017, von Michael Schöfer
Das nehme ich liebend gerne in Kauf


Auf der Wissenschaftsseite der Süddeutschen steht heute ein Artikel über das Amazonas-Volk der Tsimane, bei dem Arteriosklerose weitgehend unbekannt ist. Blutdruck-, Cholesterin- und Blutzuckerwerte der Tsimane seien hervorragend. Und das habe weniger mit einer genetischen Disposition zu tun, sondern liege vielmehr an deren Lebensstil. "Während Menschen aus Industrienationen verzweifelt auf die Schrittzähler ihrer Smartphones schauen, weil sie mal wieder weit von den empfohlenen sieben Kilometern am Tag entfernt sind, legen die Tsimane täglich 18 Kilometer zurück. Ihre Nahrung besteht überwiegend aus unverarbeiteten Kohlehydraten. Nur 14 Prozent der täglichen Kalorienmenge speist sich aus Fetten; der Großteil davon ist ungesättigt." Ein älterer Artikel bei Spiegel-Online aus dem Jahr 2009 klärt uns darüber auf, dass bei den Tsimane "Schlaganfall und Herzinfarkt praktisch nicht vorkommen".

Die Botschaft ist klar: Der durch den westlichen Lebensstil körperlich mitgenommene Couch-Potato soll sich endlich aufraffen und gesünder leben. So wie die Tsimane. Es wird den Menschen in den Industriestaaten allerdings kaum möglich sein, ihre Zeit überwiegend dem Jagen, Fischen, Früchtesammeln oder der Feldarbeit zu widmen. Die Tsimane verbringen tagsüber maximal zehn Prozent ihrer Zeit im Sitzen, Computerarbeitsplätze scheiden dann schon einmal aus.

Das Urwaldleben hat aber auch seine Nachteile, denn die durchschnittliche Lebenserwartung der Tsiname beträgt lediglich 43 Jahre. Viele sterben durch Infektionskrankheiten. Letztere erfolgreich zu bekämpfen, ist aber erst Industriegesellschaften gelungen. Hier beißt sich also die Katze in den Schwanz. Urwaldleben ist gut gegen Arteriosklerose, aber schlecht gegen Infektionskrankheiten, während es in den Industrienationen umgekehrt ist. Dennoch dürften die Deutschen kaum mit den Tsimane tauschen wollen, denn hier, im vermeintlich ungesunden Deutschland, liegt die Lebenserwartung neugeborener Jungen bei 78 Jahren und zwei Monaten, neugeborene Mädchen dürfen sogar auf 83 Jahre und einen Monat hoffen, im Schnitt ist sie also doppelt so hoch wie im bolivianischen Amazonasgebiet.

Der einzige Vorteil vom Amazonas: Es ist dort ständig warm. Ich müsste mich daher als Amazonasbewohner nicht mit einem Buch unter die kuschelige Bettdecke verkriechen, um gezwungenermaßen meinem ungesunden Lebensstil zu frönen. Himmel-Herrgott-Sakrament-Kruzifix-Halleluja-verdammt-nochamoi, bin etwa ich für das Mistwetter in Mitteleuropa verantwortlich? Aber der neue Roman von T.C. Boyle ist so gut (Schriftsteller schreiben übrigens meist im Sitzen!), dass ich das liebend gerne in Kauf nehme.