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19. Januar 2017, von Michael Schöfer
Plötzlich debattiert die Elite über die erodierende Mittelschicht


Ich liebe das Weltwirtschaftsforum in Davos. Das war nicht immer so, aber zumindest diesmal hat mich Amors Pfeil mitten ins Herz getroffen. Zwanzig oder dreißig Jahre hat die dort versammelte Elite alle Warnungen vor der zunehmenden Spaltung der Gesellschaft in den Wind geschlagen. Heute, ein Brexit-Referendum und einen Donald-Trump-Triumph später, reiben sich viele Beobachter in dem kleinen Ort im Schweizer Kanton Graubünden verwundert die Augen. Plötzlich debattiert die Elite über die erodierende Mittelschicht. Und sie wirkt dabei wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen. Dass ich diesen Tag noch erleben durfte. Was ist passiert? Das Establishment bekommt es langsam mit der Angst zu tun, schließlich stehen in diesem Jahr noch Wahlen in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden auf dem Terminkalender. Danach könnte die Welt ganz anders aussehen: Euro kaputt, EU perdu, hohe Zollschranken und ein zerstörerischer Weltwirtschaftskrieg. Unter Umständen sogar ein heißer Krieg mit Nordkorea, Iran oder China. Mit einem Mal stehen ganze Geschäftsmodelle auf dem Spiel. Nicht, dass ich für Rechtspopulisten irgendwelche Sympathien hegen würde, aber die total verunsicherte und ziemlich ratlos wirkende Elite zu beobachten, macht unheimlich Spaß. Anstatt der bislang gewohnten Arroganz glaubt man Panik in den Gesichtern zu erkennen. Schade, dass jahrzehntelanges rationales Argumentieren nicht zur Einsicht geführt hat. Aber so sind die Menschen nun mal - es muss immer erst etwas passieren. Jetzt müssen den neuen Erkenntnissen ("Wir haben die Unzufriedenen viel zu lange ignoriert!") bloß noch Taten folgen. Freilich hapert es genau daran. Immer wenn es konkret wird, vergisst die Elite all ihre guten Vorsätze. Geht ja auch nicht, von den Milliardenvermögen ein paar Prozent herzugeben. Völlig undenkbar.