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06. Februar 2018, von Michael Schöfer
Die Europäische Union ist auf dem falschen Kurs


Es ist das Verhängnis der EU, dass die Verantwortlichen sich als lernresistent entpuppen. Stur verfolgen sie ihren einmal eingeschlagenen Kurs, und selbst offenkundige Fehlentwicklungen können sie nicht beirren. Nun macht die EU-Kommission den Staaten des Westbalkans (Serbien, Montenegro, Mazedonien, Albanien, Kosovo und Bosnien-Herzegowina) Hoffnung auf einen Beitritt bis zum Jahr 2025, obgleich sie unumwunden eingesteht, dass es derzeit keine realistische Beitrittsperspektive gibt: "Die Staaten der Region zeigten 'klare Anzeichen der Unterwanderung' durch das organisierte Verbrechen. Korruption gebe es auf 'allen Ebenen der Regierung und Verwaltung'. Das trage bei zu einem 'Gefühl der Straflosigkeit und Ungleichheit'. Wesentliche Teile der Volkswirtschaften in der Region seien nicht konkurrenzfähig. Keiner der Staaten könne derzeit als funktionierende Marktwirtschaft eingestuft werden und sei in der Lage, 'dem Konkurrenzdruck und den Marktkräften in der Union standzuhalten'. Hinzu kämen bilaterale Konflikte zwischen den Staaten." [1] Glauben die Verantwortlichen tatsächlich, dass die massiven Probleme in den nächsten sieben Jahren verschwinden werden? Dies anzunehmen ist doch naiv.

Bereits in der Vergangenheit wäre die EU wesentlich besser damit gefahren, die Gemeinschaft zunächst zu vertiefen, anstatt sie fortwährend durch die Aufnahme von im Grunde beitrittsunfähigen Staaten zu erweitern. Sind die Probleme mit den osteuropäischen Staaten, insbesondere Polen und Ungarn, nicht Warnung genug? Müssen jetzt wirklich auch noch die des Westbalkans zur Gemeinschaft hinzustoßen? Mehr Mitglieder vom Schlage Rumäniens dürften keine segensreiche Wirkung entfalten. Wir schaffen es ja noch nicht einmal, Polen und Ungarn zu rechtsstaatlichem Verhalten zurückzuführen. Die EU erweist sich ihnen gegenüber als zahnloser Tiger, Bettvorleger wäre wohl der passendere Ausdruck. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ist beispielsweise dagegen, die Gelder für die Strukturförderung mit der Einhaltung der Rechtsstaatsprinzipien zu verknüpfen. [2] Ihm scheinen folgenlose Appelle völlig auszureichen. Jaroslaw Kaczyński und Viktor Orbán registrieren es bestimmt mit Genugtuung und beseitigen in ihren Ländern ungestört weiter die Demokratie. Wie bitte? Das wird bei Serbien, Montenegro, Mazedonien, Albanien, Kosovo und Bosnien-Herzegowina anders sein? Da kann man bloß noch viel Spaß wünschen.

Kommt die Westbalkan-Erweiterung, holt sich die EU noch viel mehr Probleme ins Haus, die den Bürgern dann gewiss endgültig jeden europäischen Enthusiasmus austreiben. Darüber kann selbst ein Emmanuel Macron nicht hinwegtäuschen. Es liege in unserem geostrategischen Interesse, den Westbalkan aufzunehmen, wird behauptet. Doch das ignoriert die destabilisierende Wirkung der Aufnahme für die ganze Gemeinschaft. Richtig ist vielmehr: Hätte jemand ein geostrategisches Interesse am Zerfall der EU, er müsste uns die Aufnahme des Westbalkans wärmstens empfehlen. Nur zu… Das Verhängnis der EU ist die Ignoranz der Verantwortlichen, wie die Lemminge stürzen sie sich mit großem Eifer in den Abgrund. Und wir stürzen mit ihnen.

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[1] Süddeutsche vom 06.02.2018, Printausgabe, Seite 7
[2] Süddeutsche vom 05.02.2018