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11. März 2018, von Michael Schöfer
Den Islam neu denken

(eine Rezension)

Der Mensch wird ja stets in eine bestimmte Zeit und in einen fest umrissenen Kulturkreis hineingeboren, weshalb ihm zunächst nichts anderes übrigbleibt, als beides zu akzeptieren. Immerhin lässt sich die Kultur beeinflussen - entweder indem man sie von innen heraus zu verändern versucht oder indem man den Kulturraum, in den man hineingeboren wurde, verlässt. Was sollen zum Beispiel Muslime tun, die die dominierende rigide Auslegung des Islam ablehnen? Die Religion wechseln? Den Islam anders auslegen? Das ist zumindest in den islamischen Ländern gefährlich, weil einem da schnell Apostasie (Abfall vom Glauben), Häresie/Ketzerei (Abweichung vom rechten Glauben, Irrlehre) oder Blasphemie (Gotteslästerung) vorgeworfen wird. In manchen Ländern steht darauf sogar die Todesstrafe. In den Augen der Islamisten muss so etwas ohnehin mit dem Tod bestraft werden. Die religiös motivierte Gewalt erzeugt in Klima der Angst, am Ende bleibt daher als einzige Alternative häufig bloß die Auswanderung.

Die deutsch-iranische Islam-Wissenschaftlerin Katajun Amirpur unternimmt in dem Buch "Den Islam neu denken" den lobenswerten Versuch, das vorherrschende Bild des Islam zu relativieren. Nicht durch Beschönigung, sondern durch die Präsentation von muslimischen Reformern (Nasr Hamid Abu Zaid, Fazlur Rahman, Amina Wadud, Asma Barlas, Abdolkarim Soroush, Mohammad Mojtahed Shabestari), die den Koran anders auslegen und so mit den Menschenrechten und der Demokratie kompatibel machen wollen. Das ist zugleich die Stärke und die Schwäche des Buches. Die Stärke, weil der Islam hierzulande meist als monolithischer Block gesehen wird, der hauptsächlich aus Radikalen besteht. Wir lieben ja Klischees, von der Vielschichtigkeit des Islam nehmen wir allenfalls noch die Feindschaft zwischen den Sunniten und den Schiiten wahr, die Reformer und ihre Gedanken hingegen bleiben überwiegend unbeachtet. Das macht die im lesenswerten Buch von Amirpur dargelegten Interpretationen des Islam so interessant. Genau darin liegt aber auch die Schwäche des Buches, denn Amirpur konfrontiert uns mit der beklagenswerten islamischen Realität. Teilweise konnten nämlich die Reformer ihre Gedanken nur im Ausland äußern, wohin sie, wie etwa die Pakistanerin Asma Barlas oder der Ägypter Nasr Hamid Abu Zaid, flüchten mussten. Da fragt man sich zu Recht, wie relevant solche Reformer sind, wenn sie kaum Zugang zu den Massen haben und sich die Diskussion um die Religion günstigstenfalls, sofern sie nicht vollständig unterbunden wird, auf den akademischen Bereich beschränkt. Selbstverständlich ist das keineswegs Amirpur anzulasten, doch ihre Absicht, uns liberale Strömungen des Islam zu präsentieren, wird dadurch konterkariert. Sie will für den Islam werben, schreckt aber ungewollt eher ab.

Als überzeugter Atheist kann ich es nur mit einem gewissen Amüsement zur Kenntnis nehmen, welche Klimmzüge die Reformer machen müssen, um den Islam mit den Menschenrechten in Einklang zu bringen. Amina Wadud beispielsweise wurde als Mary Teasly in den USA geboren, ihr Vater war methodistischer Pfarrer. 1972 konvertierte sie zum Islam - bloß um danach die Frauenfeindlichkeit desselben zu erkennen, die sie seither bekämpft. Der Sure 4.1 zufolge habe Allah die Menschen "aus einem einzigen Wesen geschaffen", woraus Wadud die Gleichberechtigung von Mann und Frau ableitet. Die vorherrschende patriarchalische Auslegung müsse man im Zusammenhang mit dem sozialen und historischen Kontext während der Entstehungszeit der Religion sehen und sei demnach nicht bindend. Feinsinnig unterscheidet sie dabei zwischen der medinensischen und der mekkanischen Periode der Verkündigung. Das zieht sich wie ein roter Faden durch die Lehren der Reformer, man müsse die unveränderliche göttliche Offenbarung vom historisch inspirierten Teil des Koran trennen. Letzterer sei nur durch die damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse zu verstehen und könne folglich heutzutage anders ausgelegt werden. Wie gesagt, Klimmzüge.

Da fragt man sich, warum überhaupt Religion, schließlich kann man viel direkter zur Befürwortung von Demokratie und Menschenrechten gelangen. Ganz ohne irgendeinen Glauben, denn zur Sinnsuche und Identitätsfindung ist ein solcher meiner Ansicht nach durchaus verzichtbar. Warum sich Menschen verbissen einem angeblich existierenden höheren Wesen unterwerfen wollen, mit dessen Vorschriften sie trotz allem hadern, will mir ehrlich gesagt nicht in den Kopf. Besser wäre, getreu dem Motto Immanuel Kants zu handeln: "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!"

Mich hat das Buch von Amirpur darin bestärkt, Religion als etwas zu deuten, das nur schwer mit Demokratie und Menschenrechten in Einklang zu bringen ist. Im Gegenteil, Religion (gleich welche) interpretiere ich generell als Gefahr für die Freiheit. Durch die Dogmatik und den Absolutheitsanspruch ist sie der natürliche Widerpart jeder säkularen und pluralistisch konzipierten Gesellschaft, in der die weltlichen Gesetze über den religiösen stehen. Amirpur trägt zwar dazu bei, den Islam differenzierter zu sehen, bestätigt aber implizit die Auffassung, dass Religionen zu den größten Verirrungen der Menschheit zählen. Sie widersprechen allem, worauf eine moderne Gesellschaft beruht, insbesondere der Vernunft. Muss man die Religion uminterpretieren oder zurückdrängen? Ich sage zurückdrängen. Und der Schlüssel dazu ist erstens Bildung, zweitens Bildung und drittens ebenfalls Bildung, denn "wer nichts weiß, muss alles glauben" (Marie von Ebner-Eschenbach).

Übrigens: Es gibt eine Facebook-Gruppe, die anhand von Bildern zeigt, was in den islamischen Ländern möglich war, bevor die Islamisten dort zur gesellschaftlich dominierenden Strömung wurden: "Before Sharia Spoiled Everything" (Bevor die Scharia alles verdorben hat). "Diese Gruppe ist dem Andenken säkularer Gesellschaften und Subkulturen des Zwanzigsten Jahrhunderts in Ländern mit muslimischen Bevölkerungsmehrheiten gewidmet, die seit dem Ende der Siebzigerjahre entweder zurückgedrängt oder vollständig verschwunden sind. Das Ziel der Gruppe ist damit, diese Menschen und ihren ganz gewöhnlichen Alltag insbesondere Europäern bekanntzumachen, die von der Existenz dieser Gesellschaften weitestgehend nichts wissen oder nur wenig Kenntnisse über sie haben", heißt es dort. Die Bilder sprechen für sich. Sie hinterlassen ein bisschen Wehmut: Was hätte sein können, wenn nicht...