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14. April 2018, von Michael Schöfer
Alte Rezepte taugen nicht für neue Herausforderungen


Erfahrung ist meist äußerst nützlich, weil sie einem etwa im Beruf Vorteile verschafft. Die Youngster müssen es eben erst noch lernen. Erfahrung kann aber auch zur Belastung mutieren, wenn sich die Verhältnisse abrupt ändern. So profitieren beispielsweise die deutschen Autobauer von ihrer langjährigen Erfahrung im Bau von Verbrennungsmotoren. Noch, muss man hinzufügen, denn diese Erfahrung wird in einer Zeit, in der am Horizont bereits das Ende des Verbrennungsmotors heraufdämmert, zur Last. Vom Weltmarktführer zum Dinosaurier - das geht heutzutage verdammt schnell. Im Bau von Elektrofahrzeugen haben womöglich andere die Nase vorn, weil die deutschen Autobauer viel zu lange an ihrer sorgsam gepflegten Tradition festhalten. Für diesen beunruhigenden Vorgang gibt es ein Wort: disruptiv (etwas Bestehendes auflösend, zerstörend). Scheinbar stabile Verhältnisse werden schlagartig und unwiederbringlich durch etwas anderes abgelöst. Und wer sich nicht anpasst, wer aus Bequemlichkeit lieber am Altbewährten festhält und die Chancen der Innovation nutzlos verstreichen lässt, geht unweigerlich unter.

Disruptive Umwälzungen finden aber derzeit nicht nur auf dem Gebiet der Wirtschaft statt, sondern mindestens genauso im Bereich der Politik. Ach, wie bequem und übersichtlich war doch die Welt bis zum Ende der achtziger Jahre. Es gab zwei sich feindlich gegenüberstehende Lager - hier die USA und ihre Verbündeten, dort die Sowjetunion und ihre Vasallen. Die übrige Welt diente mehr oder weniger als Schlachtfeld zur Austragung von Stellvertreterkonflikten. China dämmerte noch im Zustand des schlafenden Riesen vor sich hin. Das hatte den unschätzbaren Vorteil klar verlaufender Fronten, Gut und Böse waren eindeutig zu identifizieren. Diese Welt ist mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem rasanten Aufstieg von China unwiederbringlich dahin. Und so sehr sich auch manche danach zurücksehnen, sie wird vermutlich nie wieder zurückkehren. Die Erfahrungen, die die Politiker in der Ära des Ost-West-Konflikts geprägt haben, erweisen sich nun als Belastung, denn sie sind gedanklich noch allzu sehr dem alten System verhaftet und können sich nur schwer auf die grundlegenden Veränderungen einstellen. Die neuen Herausforderungen dürften nämlich kaum mit den alten Rezepten zu lösen sein.

Wladimir Putin wird oft als kühl kalkulierender Politiker charakterisiert, der mit seinem Hintergrund als ehemaliger KGB-Agent bereit ist, skrupellos zu handeln. Unterstellen wir einmal, die Behauptungen sind wahr: Russland versucht den Westen zu destabilisieren und hat kräftig dabei mitgeholfen, einen gewissen Donald Trump ins Weiße Haus zu hieven. Hat sich diese Strategie ausgezahlt? Das ist zu bezweifeln, denn wenn Russland in Syrien militärisch mit dem Westen zusammenprallt, kann daraus leicht ein unbeherrschbarer globaler Konflikt entstehen. Kann Russland den gewinnen? Wahrscheinlich nicht, am Ende dürften wohl - je nach Ausmaß des Zusammenpralls - alle auf der Verliererseite stehen. Putin, immerhin schon fast 19 Jahre an der Macht, hat es versäumt, das potenziell reiche Russland zu entwickeln, außer Rohstoffen und Waffen hat es wenig zu bieten. Das war schon zu Sowjetzeiten so.

Die ganze Hilflosigkeit Moskaus spiegelt sich in der Reaktion auf die westlichen Sanktionen wider. Als Gegenmaßnahme zu den kürzlich erlassenen US-Sanktionen kündigt Moskau Importverbote für bestimmte amerikanische Produkte an: Software, Agrargüter, Tabak, Alkohol und Medikamente. Angeblich auch Nukleartechnologie, Raketenantriebe sowie Flugzeugzubehör. Die Bilanz Russlands beim Handel mit den USA ist allerdings positiv, 2017 wurden Waren im Wert von 17 Mrd. US-Dollar in die USA exportiert (im Wesentlichen Rohstoffe, Ölprodukte, Metalle) und Waren im Wert von knapp 7 Mrd. US-Dollar aus den USA importiert. [1] Der Export von amerikanischem Tabak nach Russland betrug lediglich 33,2 Mio. US-Dollar (Anteil 0,48 %), der von Alkohol war noch viel niedriger. Das wichtigste Exportprodukt der Vereinigten Staaten im Handel mit Russland waren zivile Flugzeuge im Wert von 2,3 Mrd. US-Dollar. [2] Putins ökonomisches Schwert ist also genau besehen ziemlich stumpf.

Hat es sich andererseits für den Westen ausgezahlt, das 1989 abgegebene Versprechen, es werde keine Osterweiterung der Nato stattfinden, zu brechen? Hat es sich gelohnt, die russischen Sicherheitsbedürfnisse zu ignorieren, die Weltgemeinschaft dreist zu belügen und das Völkerrecht ebenfalls gleich mehrfach zu missachten? Der Westen fühlt sich nämlich heute keineswegs sicherer als vorher. Im Gegenteil, die jahrzehntelange Machtpolitik à la Niccolò Machiavelli hat gerade im Nahen Osten ein heilloses Chaos verursacht. Zudem schwappen nun auch noch (Stichwort Flüchtlingskrise) die Folgen der ungerechten Weltwirtschaftsordnung zu uns herein. Der ungezügelte Raubtierkapitalismus hat obendrein auch bei uns zu nicht mehr hinnehmbaren sozialen Verwerfungen geführt, die Kluft zwischen Arm und Reich ist inzwischen riesengroß, die Mittelschicht erodiert Stück für Stück. Kein Wunder, wenn nahezu überall die Feinde der Demokratie auf dem Vormarsch sind und den Westen von innen heraus zu zerfressen drohen.

Man wünscht sich eine Zeitmaschine. Wie einfach war doch die Welt Ende sechziger, Anfang der siebziger Jahre: Hier die Guten, dort die Bösen. Und wirtschaftlich ging es im Westen noch für alle aufwärts. Vollbeschäftigung, steigende Einkommen, erschwingliche Mieten, wenig prekäre Arbeitsverhältnisse, weit und breit kein Hartz IV. Und die Rente war tatsächlich sicher, selbst der Himmel über der Ruhr wurde allmählich wieder blau. Trotz des ständig drohenden Damoklesschwerts eines Atomkrieges machte sich allenthalben Optimismus breit. Vorbei, dahin - die Welt wird nie wieder so aussehen. Doch anscheinend haben die Politiker noch nicht bemerkt, wie tiefgreifend der Wandel ausfällt. Weit und breit ist keine Strategie gegen die Folgen der disruptiven Umwälzung zu erkennen. Ein Beispiel: Der Westen agiert im Verhältnis zu den islamischen Staaten offenkundig völlig planlos. Oder können Sie mir sagen, was wir zum Beispiel in Syrien wirklich wollen? Baschar al-Assad soll weg, das ist klar. Wer sein Volk foltern und töten lässt, hat jegliche Legitimation verloren. Aber wollen wir in Damaskus die Islamisten regieren sehen? Das nun auch wieder nicht. Wir wollen uns nicht richtig einmischen, aber auch nicht vollkommen heraushalten. Gibt es, außer gelegentlichen Bombardements, irgendein vernünftiges Konzept? Fragen Sie mal Donald Trump, der die Kriegserklärung per Twitter in die hohe Kunst der Diplomatie eingeführt hat.

Nichts als Stückwerk, doch dadurch wird alles bloß noch schlimmer. Dabei ist die Vertrauenskrise, der sich westliche Politiker ausgesetzt sehen, nicht einmal das Produkt Putins, sie ist vielmehr hausgemacht. Der derzeitige sogenannte "Führer der freien Welt" ist bekanntlich ein notorischer Lügner. Übrigens noch nicht einmal der erste, sondern nur der vorläufig letzte in einer lange Reihe (George W. Bush: Die USA foltern nicht, Saddam Hussein hat Massenvernichtungswaffen). Es ist schließlich bezeichnend, wenn in der Affäre Skrupal die Glaubwürdigkeit des britischen Außenministers Boris Johnson nicht viel höher anzusiedeln ist, als die des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Nach außen hin hält man gerne die glänzende Fassade der Demokratie aufrecht, aber dahinter stapeln sich in den Kellern die Leichen einer zynischen Machtpolitik. Verdeckte Operationen, Meuchelmorde, Bespitzelung der Bürger, Manipulation der öffentlichen Meinung - das ist wahrlich kein Alleinstellungsmerkmal Russlands. Gewiss, hierzulande sind wir zu Recht stolz auf die weitgehende Beachtung der Menschenrechte, haben aber zugleich nicht die geringsten Skrupel, uns mit brutalen Diktatoren ins Bett zu legen. Jedenfalls dann, wenn es unseren geostrategischen Interessen nützlich erscheint. Der syrische Präsident Baschar al-Assad wird verteufelt, der ägyptische Präsident Abd al-Fattah as-Sisi hingegen mit Waffen beliefert. Assad lässt systematisch foltern, as-Sisi lässt systematisch foltern, beide halten wenig von Demokratie und Meinungsfreiheit. Wo bitteschön ist denn da der entscheidende Unterschied? Wenig verwunderlich, dass die Ergebnisse unserer Politik so dürftig sind.

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[1] US Census Bureau, Foreign Trade, Trade in Goods with Russia
[2] US Census Bureau, U.S. Exports to Russia by 5-digit End-Use Code, 2008 - 2017