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02. Juni 2018, von Michael Schöfer
Es läuft eher auf die Totengräber-Variante hinaus

"Verfechter eines Stabilisierungskurses, wie ihn die große Koalition in Berlin sowie sämtliche nord- und osteuropäische EU-Länder fordern, sind zutiefst beunruhigt", schreibt Thomas Urban in der Süddeutschen. Grund: Die neue Regierung "will den Sparkurs korrigieren". "Schluss mit dem Sparen", heißt es. Der neue Premier hat angekündigt, dass zu den ersten Schritten seiner Regierung "die Anhebung des Mindestlohnes gehört, außerdem sollen die Kürzung von Sozialausgaben sowie Renten- und Lohnkürzungen im öffentlichen Dienst rückgängig gemacht werden". Aber "ohne eine Begrenzung der Staatsausgaben kann keine Regierung eine Schuldenkrise bewältigen. (...) Das Land geht unruhigen Zeiten entgegen", prophezeit Urban. Dabei hatte es "nach einem harten Sanierungskurs die Rezession überwunden und war auf Wachstumskurs geschwenkt. Die Sparpolitik bekam viel Lob. Teure Wahlgeschenke stehen aber nun in der Kritik. Aus Brüsseler Sicht droht das Land also wieder zum Problemfall zu werden." [1]

Nein, es geht hier trotz der Ähnlichkeit der Argumente ausnahmsweise einmal nicht um Italien, sondern um Portugal. Und die (unwesentlich abgeänderten) Kommentare sind gut zwei Jahre alt. In den deutschen Medien wurde Ende November 2015 die Wahl einer linken Regierung kritisch bewertet. Doch die Kritiker haben sich getäuscht, die Lage in Portugal ist heute sogar besser als damals. "Die portugiesische Wirtschaft blüht überraschend auf - obwohl die sozialistisch geführte Regierung eigentlich das Schlimmste befürchten ließ", stellte Thomas Urban im September 2017 fest. Es sieht "auf einmal überraschend gut für Portugal aus". [2] Damit hat sich einmal mehr die alte Weisheit bestätigt: Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt. Deutsche Journalisten haben die Austeritätspolitik und den Freihandel inzwischen so verinnerlicht, dass sie mit Erstaunen zur Kenntnis nehmen: Es gibt sehr wohl eine Alternative. Man würde es sich zweifellos zu einfach machen, Donald Trump, die linke Regierung in Lissabon und die rechtspopulistische Regierung in Rom über einen Kamm zu scheren, aber es scheint zumindest eine gemeinsame Ursache zu geben. Die Zeiten haben sich offenkundig geändert, das TINA-Prinzip (there is no alternative) hat ebenso ausgedient wie das deutsche Geschäftsmodell (extreme Exportorientierung).

Es wird für Deutschland langsam Zeit, sich von seinen Lebenslügen zu lösen. Wir müssen uns endlich ehrlich machen. Die globale Außenhandelsbilanz ist stets ausgeglichen, die Überschüsse des einen sind folglich die Defizite des anderen. Wenn Deutschland zielgerichtet darauf hinarbeitet, jedes Jahr aufs Neue riesige Außenhandelsüberschüsse zu erwirtschaften, darf es sich über den wachsenden Widerstand seiner Handelspartner nicht wundern. Das ist keine Ideologie, sondern reine Mathematik. Deutschland kann doch nicht wirklich glauben, die eigene Wirtschaftspolitik würde auf einem ehernen ökonomischen Prinzip beruhen und sei damit gerechtfertigt. Es gibt kein Naturgesetz, wonach Deutschland immer auf der Gewinnerseite zu stehen hat. Wir glauben zwar, darauf einen Anspruch zu haben, aber das ist nur unserem Hochmut geschuldet. "Vom Freihandel profitieren alle", behauptet die Legende, die Realität sieht leider anders aus.

Kein Land profitiert so vom Freihandel wie Deutschland. Und der Euro, die europäische Gemeinschaftswährung, war hierbei ein äußerst nützliches Werkzeug. Der Euro wurde am 1. Januar 1999 als Buchgeld und am 1. Januar 2002 als Bargeld eingeführt. In der nachfolgenden Tabelle sieht man deutlich, wie der Anteil des Außenhandelsüberschusses am Bruttoinlandsprodukt nach der Einführung des Euro buchstäblich nach oben schoss. [3] Momentan ist er fast zweieinhalbmal so hoch als vorher.

Jahr Bruttoinlandsprodukt
(in jeweiligen Preisen)
Außenhandels-
überschuss
Anteil Außenhandels-überschuss am BIP
1991 1.579,800 Mrd. € 11,197 Mrd. € 0,71 %
1992 1.695,320 Mrd. € 17,117 Mrd. € 1,01 %
1993 1.748,550 Mrd. € 31,645 Mrd. € 1,81 %
1994 1.830,290 Mrd. €
37,640 Mrd. € 2,06 %
1995 1.898,880 Mrd. € 43,615 Mrd. € 2,30 %
1996 1.926,320 Mrd. € 50,382 Mrd. € 2,62 %
1997 1.967,090 Mrd. € 59,548 Mrd. € 3,03 %
1998 2.018,230 Mrd. € 64,919 Mrd. € 3,22 %
1999 2.064,880 Mrd. € 65,211 Mrd. € 3,16 %
2000 2.116,480 Mrd. € 59,129 Mrd. € 2,79 %
2001 2.179,850 Mrd. € 95,494 Mrd. € 4,38 %
2002 2.209,290 Mrd. € 132,788 Mrd. € 6,01 %
2003 2.220,080 Mrd. € 129,921 Mrd. € 5,85 %
2004 2.270,620 Mrd. € 156,096 Mrd. € 6,87 %
2005 2.300,860 Mrd. € 158,179 Mrd. € 6,87 %
2006 2.393,250 Mrd. € 159,048 Mrd. € 6,65 %
2007 2.513,230 Mrd. € 195,349 Mrd. € 7,77 %
2008 2.561,740 Mrd. € 178,298 Mrd. € 6,96 %
2009 2.460,280 Mrd. € 138,697 Mrd. € 5,64 %
2010 2.580,060 Mrd. € 154,863 Mrd. € 6,00 %
2011 2.703,120 Mrd. € 158,702 Mrd. € 5,87 %
2012 2.758,260 Mrd. € 193,222 Mrd. € 7,01 %
2013 2.826,240 Mrd. € 197,632 Mrd. € 6,99 %
2014 2.932,470 Mrd. € 213,601 Mrd. € 7,28 %
2015 3.043,650 Mrd. € 244,310 Mrd. € 8,03 %
2016 3.144,050 Mrd. € 248,916 Mrd. € 7,92 %
2017 3.263,350 Mrd. € 244,444 Mrd. € 7,49 %
grüner Hintergrund = vor Einführung des Euro, roter Hintergrund = nach Einführung des Euro



Wenn es nach Deutschland ginge, würde sich daran auch nichts ändern. Wie schade, dass unsere Handelspartner keine Lust haben, weiterhin ständig Defizite anzusammeln, für die sie dann von Berlin auch noch gerügt werden. (Achtung: Ironie!) Faktisch muss sich dort die Bevölkerung einschränken (Stichwort: Sparpolitik), weil wir partout auf unseren Außenhandelsüberschüssen bestehen. "Unsere Industrie ist halt so wettbewerbsfähig" oder "Warum sollen unsere Unternehmen ineffektiver wirtschaften", heißt es hierzulande mit treuherzigem Augenaufschlag. Mit anderen Worten: "Selbst schuld, wenn ihr euch nicht genug anstrengt." Und weil der Euro an unseren Überschüssen natürlich vollkommen unschuldig ist (Achtung: Ironie!), wollen wir zwar an der gemeinsamen Währung festhalten, wehren uns aber vehement gegen eine gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik sowie gegen den in einem Währungsgebiet eigentlich notwendigen Finanzausgleich. Warum ist es vergleichsweise unwichtig, wie viele Waren Kalifornien nach Wisconsin liefert respektive von dort bezieht? Weil innerhalb des Dollarraumes ein System des Finanzausgleichs existiert. Und warum wirken sich unsere Überschüsse im Handel mit Italien (2017 ein Plus von 9,6 Mrd. €) negativ auf den italienischen Staatshaushalt aus? Weil es bislang in der Eurozone einen solchen Finanzausgleich nicht gibt. Dass es ihn nicht gibt, ist politisch gewollt. Besser gesagt: von Deutschland so gewollt.

"Der Status Quo führt in die Selbstzerstörung, die Fliehkräfte sind zu groß, politisch wie ökonomisch", beklagte 2015 der damalige französische Wirtschaftsminister Emmanuel Macron. Sein Vorschlag: Ein "Euro-Kommissar" in Brüssel, der die Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik der Euro-Länder koordinieren soll. "Die Euro-Regierung würde geführt von einem Kommissar mit weitreichenden Befugnissen", sagte Macron. Der neue Posten "wäre nicht nur ein Euro-Finanzminister, sondern jemand, der auch Investitionsmittel vergibt oder in der Arbeitsmarktpolitik mitredet." [4] Daran hält Macron auch nach seiner Wahl zum Staatspräsidenten fest (Initiative für Europa). Reaktion aus Deutschland: Angela Merkel gibt sich zwar interessiert und lobt den französischen Präsident für sein Engagement, in der Praxis lässt sie ihn jedoch durch ihre Inaktivität auflaufen. Das kennen wir ja von ihr - lieber erst einmal abwarten. "Wollen wir die Neugründer Europas sein - oder seine Totengräber", fragte Macron 2015. Aus heutiger Sicht und vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Entwicklung läuft es eher auf die Totengräber-Variante hinaus.

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[1] Süddeutsche vom 16.11.2015, Süddeutsche vom 24.11.2015 und Süddeutsche vom 04.02.2016
[2] Süddeutsche vom 24.09.2017
[3] Statistisches Bundesamt, Bruttoinlandsprodukt ab 1970, PDF-Datei mit 163 kb und Statistisches Bundesamt, Gesamtentwicklung des deutschen Außenhandels ab 1950, PDF-Datei mit 64 kb
[4] FAZ.Net vom 31.08.2015