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23. Juni 2018, von Michael Schöfer
Herdenverhalten


Zur Natur des Menschen gehört unbestreitbar das Herdenverhalten: Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre waren lange Haare en vogue, also durfte damals im Vorabendprogramm des sonst so biederen ZDF auch ein Serienheld namens "Bastian" auftreten - mit einer Frisur à la Günter Netzer. In dieser Zeit hatten, vielleicht mit Ausnahme der Jungen Union, fast alle lange Haare. Und wer glaubt, dieses Herdenverhalten sei Schnee von gestern, der schaue sich die Hipster mit ihren Salafistenbärten an. Rein vom Aussehen her hätte zum Beispiel selbst der ehemalige Chefredakteur der Bild-Zeitung, Kai Diekmann, eine Zeitlang genauso gut als Islamist durchgehen können.

Herdenverhalten gab und gibt es auch in der Wirtschaft. Früher war in Unternehmen Diversifikation (Verbreiterung des Produktportfolios) angesagt, hinterher war mit einem Mal die Konzentration aufs Kerngeschäft, mithin das genaue Gegenteil, in Mode. Der Staat privatisierte zeitweise auf Teufel komm raus (Wohnungen, Energieversorger, Eisenbahn etc.), was er heutzutage teilweise wieder zurückdreht. So findet etwa momentan eine Rekommunalisierung der Strom- und Gasnetze statt, die Privatisierungswelle als Ausfluss des neoliberalen Paradigmas wird zunehmend als Irrweg erkannt. Der Verkauf des Wohnungsbestands gemeinnütziger Wohnungsgesellschaften an Privatunternehmen wird jetzt allenthalben bereut, denn das hat die Wohnungsnot in den Ballungsräumen noch verschärft. Es wäre natürlich am besten gewesen, man hätte von Anfang an auf die Privatisierungskritiker gehört, doch die wurden erfolgreich als altmodisch verunglimpft. Nun haben wir den Salat.

Zur Zeit ist die Bildungspolitik dran: Die Einführung des Turbo-Gymnasiums (G8) wurde einst mit der angeblich zu langen Schulzeit begründet. Die junge Generation sollte schneller ins Arbeitsleben integriert werden. Je früher sie Geld verdient, desto besser für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes und demzufolge auch für die Steuereinnahmen. Doch aktuell kehren viele Bundesländer wieder zum neunjährigen Gymnasium zurück, das achtjährige entpuppte sich nämlich als zu unattraktiv. Das Leben, sprich die Belastungsgrenzen der Schülerinnen und Schüler, wollte sich einfach nicht an die hochtrabenden Pläne der Bildungstheoretiker halten. Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt. Auch an der Effizienz des Bachelor- und Mastersystems gibt es berechtigte Kritik. Der Bologna-Prozess halte nicht, was er versprochen hat, sagt der Deutsche Hochschulverband und bezweifelt dessen Qualität und Praxistauglichkeit, die alten Magister- und Diplom-Studiengänge seien besser gewesen. Knapp 30 Prozent der Studenten brechen ihr Studium ab, bestätigt der nationale Bildungsbericht unabhängiger Wissenschaftler.

Von einer längeren Schulzeit profitieren alle, wird neuerdings propagiert. "Als Vorteil einer kurzen Schulzeit gilt es, früher Geld zu verdienen - und Steuern zu zahlen. Dass die Gesellschaft davon profitiere, wenn ein Teil der Arbeitnehmer schon mit 16 Jahren in den Arbeitsmarkt eintritt, ist aber eine Illusion. Die Jahre, in denen diese Menschen früher als Akademiker Sozialabgaben zahlen, sind teuer erkauft. Bezahlt werden sie mit höheren Gesundheitskosten und Arbeitslosengeld. Gravierend sind auch die Folgen für die soziale Teilhabe: Menschen mit einem mittleren Schulabschluss gehen seltener wählen als solche mit Hochschulreife. Es leidet also auch die Demokratie." [1] Manche denken inzwischen über eine Anhebung der Schulpflicht bis zum 21. Lebensjahr nach. Insbesondere Hauptschüler bräuchten mehr Zeit zum Lernen. Man dürfe keinen zurücklassen, heißt es.

Einerseits ist es ja positiv, wenn man offensichtlich fehlgeschlagene Reformen überdenkt und gegebenenfalls korrigiert. Alles andere wäre auch reine Ideologie, die sich nicht um die Fakten schert. Andererseits ist es immer wieder bedauerlich, wie bereitwillig die meisten irgendwelchen Modeerscheinungen hinterherrennen. Typisches Herdenverhalten: Weil viele in eine bestimmte Richtung rennen, rennen andere mehr oder minder gedankenlos in die gleiche Richtung hinterher. Das kann schlimm enden. Dass sich Lemminge massenhaft von den Klippen stürzen, wurde mittlerweile als Mythos entlarvt. Allerdings manövrieren sich Gesellschaften zuweilen durchaus in eine Sackgasse, indem sie einem vermeintlich attraktiven Trend folgen. Momentan gilt das für die Rückkehr zum Nationalismus und die Hinwendung zu illiberalen Herrschaftsformen.

Autokraten liegen im Trend, die Demokratie befindet sich anscheinend auf dem absteigenden Ast. (Verblüffend, wie schnell das geht: Noch vor kurzem war es umgekehrt.) Doch wie kommen wir da wieder heraus, wenn sich die autoritären Strukturen als Irrweg erweisen? Wenn Wahlfälschungen, die faktische Abschaffung der Gewaltenteilung und die Missachtung der Menschenrechte jegliche Umkehr verhindern? Das Umsteuern vom G8 zum G9 war vergleichsweise leicht. Aber wie wird man ein autoritäres System à la Putin wieder los, wenn es sich fest etabliert hat? Müssen Errungenschaften, wie etwa ein geeintes Europa, das auf Rechtsstaatlichkeit und Demokratie beruht, dem Ansturm der Populisten weichen, kann man bei Bedarf nicht einfach zum Ausgangspunkt zurückkehren. Was einmal in Trümmern liegt, erlebt selten ein Comeback.

Unglaublich: Das, was in den Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut wurde, steht inzwischen zur Disposition. Markus Söder und Alexander Dobrindt ist das offenbar schnurzpiepegal. Horst Seehofer, der Söder noch unlängst "charakterliche Schwächen" und einen Hang zu "Schmutzeleien" attestierte, spielt bereitwillig mit. Jeder, der leichtfertig oder sogar berauscht die allzu eingängigen Parolen des Augenblicks nachplappert, sollte deshalb kurz innehalten und das Ende bedenken. Wenn die Seifenblase platzt, was unzweifelhaft der Fall sein wird, wachen wir in einer Realität auf, die wir uns weder gewünscht noch vorher bis zur letzten Konsequenz durchdacht haben. Doch vielleicht ist es dann zu spät. Der Firnis der Zivilisation ist bekanntlich dünn. Und die Geschichte zeigt, wie tief wir fallen können.

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[1] Süddeutsche vom 23.06.2018