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25. August 2018, von Michael Schöfer
Der "Gastarbeiter" erlebt eine unerwartete Renaissance


Wenn hierzulande drei Tage lang nicht über Flüchtlinge gesprochen wird, kommt bestimmt irgendein Spitzenpolitiker daher und wirft einen neuen Vorschlag auf den Markt. In diesem Fall ist es eine Spitzenpolitikerin, und zwar die CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer. Zudem sind es oft Vorschläge, die rechtlich problematisch sind und schon allein deshalb von vornherein wenig Aussicht auf Erfolg haben. Hauptsache, man diskutiert tage- oder sogar wochenlang wieder über Flüchtlinge. Ganz so, als habe man keine anderen Probleme, wie etwa die soziale Lage des Landes. Man bekommt fast den Eindruck, als wolle da jemand mit aller Gewalt die AfD nach oben pushen.

Worum geht es diesmal? "In der Debatte um eine allgemeine Dienstpflicht hat CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer vorgeschlagen, einen solchen Dienst auch Flüchtlingen und Asylbewerbern zu ermöglichen. 'Wenn Flüchtlinge ein solches Jahr absolvieren, freiwillig oder verpflichtend, dient das ihrer Integration in Staat und Gesellschaft', sagte sie den Zeitungen der Funke Mediengruppe. 'Und in der Bevölkerung würde es die Akzeptanz erhöhen, dass Flüchtlinge bei uns leben', so Kramp-Karrenbauer." [1] Da kann ich die Zustimmung der Stammtische buchstäblich hören, frei nach dem Motto: "Wenn die hier Asyl wollen, sollen sie gefälligst auch was dafür tun." (Eine Variante von: "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.")

Dabei müsste Kramp-Karrenbauer, immerhin eine studierte Juristin (Magister in Politikwissenschaft und Öffentliches Recht), eigentlich wissen, wie schwer eine allgemeine Dienstpflicht durchzusetzen ist. Nach Auffassung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages ist hierfür nämlich eine Grundgesetzänderung notwendig: "Die Einführung einer Dienstpflicht für Frauen und Männer durch einfaches Gesetz [wäre] nach dem geltenden Verfassungsrecht nicht zulässig. (…) Der verfassungsändernde Gesetzgeber (Art. 79 Abs. 2 GG) könnte jedoch das Grundgesetz entsprechend ändern, und solche (neue) allgemeine Dienstpflichten darin verankern. Diese dürfen jedoch die von der Menschenwürdegarantie (Art. 79 Abs. 3 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) gezogenen Grenzen nicht überschreiten. Letzteres wäre der Fall, wenn die Dienstpflichten die betroffenen Frauen und Männer unverhältnismäßig belasten und ihren unantastbaren Bereich menschlicher Freiheit verletzen." [2] Artikel 79 Abs. 2 GG lautet: "Ein solches Gesetz bedarf der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates." Eine recht hohe Hürde also.

Wobei die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages diese Frage sicherlich nur unter dem Gesichtspunkt "allgemeine Dienstpflicht für deutsche Staatsbürger" erörtert haben. Ob Ausländer überhaupt zu einem solchen Zwangsdienst verpflichtet werden können (siehe etwa die Rechtslage beim Wehrdienst), bedarf einer gesonderten verfassungsrechtlichen Prüfung. Die Europäische Menschenrechtskonvention definiert zwar in Artikel 4 Abs. 3 Buchstabe d (Verbot der Zwangsarbeit) "eine Arbeit oder Dienstleistung, die zu den üblichen Bürgerpflichten gehört", nicht als Zwangs- oder Pflichtarbeit im Sinne dieses Artikels, dennoch ist die Frage, ob sich solche Bürgerpflichten bloß auf die eigenen Staatsbürger beschränken oder auch auf die hier lebenden Ausländer erstrecken, keineswegs irrelevant. Bislang galten Bürgerpflichten, als Gegengewicht zu den staatsbürgerlichen Rechten, nämlich nur für die eigenen Staatsbürger. "Bürgerpflicht ist eine Beschreibung für Pflichten, die sich aus der Staatsbürgereigenschaft (Staatsangehörigkeit zu einem bestimmten Staat) ergeben." [3]

Völlig absurd wird das Ganze, wenn sich Kramp-Karrenbauer zugleich gegen den "Spurwechsel" bei Flüchtlingen ausspricht. "Der 'Spurwechsel' sieht ein generelles Bleiberecht für abgelehnte Asylbewerber vor, wenn diese eine Arbeit oder Ausbildung vorweisen können. 'Wir sind uns einig, dass das Grundrecht auf Asyl und die Einwanderung in den Arbeitsmarkt zwei unterschiedliche und voneinander unabhängige Systeme sind', schreibt die Generalsekretärin. Deshalb lehne die CDU einen 'Spurwechsel' ab." [4] Den "Spurwechsel" von gut integrierten Flüchtlingen könnte unsere Wirtschaft allerdings gut gebrauchen. Stichwort: Fachkräftemangel.

Man muss sich die Position der CDU-Generalsekretärin einmal auf der Zunge zergehen lassen: Ein konsequentes Nein zur Erwerbstätigkeit von abgelehnten Asylbewerbern, aber ein ebenso konsequentes Ja zur Zwangsarbeit (was die Dienstpflicht de facto wäre), solange sie im Asylverfahren stecken. Geht es noch zynischer? Und was Kramp-Karrenbauer, angeblich eine bekennende Katholikin, verschweigt: Nach der Absolvierung der allgemeinen Dienstpflicht könnten Flüchtlinge trotzdem weiterhin abgeschoben werden. Der Terminus "Gastarbeiter" erlebt dadurch eine unerwartete Renaissance. Entsprechend dem geflügelten Wort, das aus Friedrich Schillers Die Verschwörung des Fiesco zu Genua (1783) stammt: "Der Mohr hat seine Arbeit getan, der Mohr kann gehen!" Vielleicht gehört der Vorschlag Kramp-Karrenbauers bloß zum üblichen Füllmaterial fürs Sommerloch. Verständlicher wird er dadurch aber nicht.

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[1] tagesschau.de vom 25.08.2018
[2] Deutscher Bundestag, Möglichkeit der Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht für Frauen und Männer nach deutschem Verfassungsrecht, PDF-Datei mit 207 kb
[3] Wikipedia, Bürgerpflicht
[4] Handelsblatt vom 23.08.2018