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17. September 2018, von Michael Schöfer
Was man nicht verspricht, kann man nicht brechen


Im Mai diesen Jahres kursierten in der Fachpresse Meldungen, wonach Google aus seinem Verhaltenskodex klammheimlich das Unternehmensmotto "Don't be evil" ("Sei nicht böse") entfernt hat. [1]

Dort hieß es ehedem im Vorwort: "'Don’t be evil.' Googlers generally apply those words to how we serve our users. But 'Don’t be evil' is much more than that. Yes, it’s about providing our users unbiased access to information, focusing on their needs and giving them the best products and services that we can. But it’s also about doing the right thing more generally - following the law, acting honorably, and treating co-workers with courtesy and respect." [2]

Übersetzung: "'Sei nicht böse.' Die Googler wenden diese Wörter im Allgemeinen darauf an, wie wir unseren Nutzern dienen. Aber 'Sei nicht böse' ist viel mehr als das. Ja, es geht darum, unseren Nutzern einen unvoreingenommenen Zugang zu Informationen zu bieten, sich auf ihre Bedürfnisse zu konzentrieren und ihnen die bestmöglichen Produkte und Dienstleistungen zu bieten, die wir anbieten können. Aber es geht auch darum, das Richtige zu tun - dem Gesetz zu folgen, ehrenhaft zu handeln und Kollegen mit Höflichkeit und Respekt zu behandeln."

Google kultivierte, zumindest nach außen hin, ein Gutmenschen-Image - etwas, das früher auch Apple gerne für sich in Anspruch nahm. Doch wir ahnen, warum Google mittlerweile davon abgerückt ist, "Don't be evil" wäre wohl angesichts der geänderten Geschäftspolitik gegenüber China lächerlich erschienen. Das Unternehmen plant nämlich, mit seinem Geschäftsmodell endlich auch in der Volksrepublik Fuß fassen zu dürfen. Google war dort bislang verboten, weil es sich nicht den Zensurwünschen der Pekinger Regierung beugen wollte. Motto: "Don't be evil."

Das scheint freilich Schnee von gestern zu sein, denn Google will Presseberichten zufolge künftig in Sachen Zensur mit der chinesischen Regierung zusammenarbeiten. Danach soll die eigens für den chinesischen Markt angepasste Suchmaschine (Codename "Dragonfly") zu jeder Suchanfrage die Telefonnummer des Nutzers speichern. [3] Die Cashcow "Google Search" dürfte demnächst im Reich der Mitte ordentlich Geld erwirtschaften.

Doch zu welchem Preis? Jeder Nutzer von Dragonfly riskiert seine Freiheit oder sogar sein Leben, wenn er im Netz mit unliebsamen Suchbegriffen nach Informationen sucht. "Charta 08" oder "Tian’anmen-Massaker" würden hierfür völlig ausreichen. Feststellung der Identität? Dank Google kein Problem! Die Kommunistische Partei will mit allen Mitteln ihre Macht erhalten, so sollen beispielsweise in Xinjiang eine Million Uiguren in Umerziehungslagern festgehalten werden - ohne Anklage, ohne ordentliches Gerichtsverfahren, ohne Zugang zu Rechtsanwälten. Angeblich werden Gefangene dort auch gefoltert. Die chinesischen Behörden sind bekanntlich nicht zimperlich - übrigens nicht bloß in Xinjiang. Und Google will denen des schnöden Mammons zuliebe helfen? Unfassbar.

Wir erinnern uns: Shi Tao, Li Zhi und Jiang Lijun, drei chinesische Cyberdissidenten, landeten mutmaßlich dank Yahoo für viele Jahre im Gefängnis, das Unternehmen soll den Behörden Informationen über deren E-Mail-Accounts geliefert haben. "Yahoo hat seine Seele verkauft und ist eine nationale Schande", schrieb dazu ein Kolumnist der New York Times. [4] Und er machte das Ausmaß des moralischen Sündenfalls mit einer historischen Analogie deutlich: "Angenommen, Anne Frank hätte 1944 einen E-Mail-Account gehabt, und die Nazis hätten Yahoo um Zusammenarbeit gebeten, um sie ausfindig zu machen." Nun wandelt also auch Google in Yahoos Fußstapfen. Das erklärt, warum sich der Internet-Gigant von der Firmenphilosophie "Don't be evil" heimlich, still und leise verabschiedet hat. Die Google-Mutter Alphabet hat allein im ersten Quartal 2018 einen Überschuss in Höhe von 9,4 Mrd. Dollar eingesackt. Das reicht offenkundig noch nicht aus, denn in China locken längst weitere Milliarden.

Man darf sich keinen Illusionen hingeben, Google ist keine Ausnahme, die meisten Unternehmen würden im sprichwörtlichen Sinne ihre eigene Großmutter verkaufen, solange es ihnen genug Profite beschert. Sie würden auch Sie und mich verkaufen, Dissidenten im Milliardenmarkt China ohnehin. Es ist kaum zu leugnen: Der Homo oeconomicus ist unersättlich. Demokratie hat für Unternehmen keinen pekuniären Wert, Bekenntnisse zu ihr sind daher meist bloß Lippenbekenntnisse. Was sie mögen, ist der Eigentumsschutz des Rechtsstaats. Die Rechte der Bevölkerung hingegen sind zweitrangig, Gesetze zum Schutz der Arbeitnehmer äußerst lästig.

Schon von jeher war eines kulturübergreifend für menschliche Gesellschaften charakteristisch: Die Ausbeutung des Menschen durch seinesgleichen. Existierte je eine Gesellschaft, in der es keine Ausbeutung gab? Seine Mitmenschen übers Ohr zu hauen, zu betrügen, auszunutzen und notfalls zu beseitigen, wenn sie aufmüpfig wurden, scheint unserer Spezies in den Genen zu stecken. Ausbeutung wurde überall so selbstverständlich praktiziert wie Essen und Trinken. Das hat sich bis zum heutigen Tag nicht geändert. Und jetzt ist offenbar auch Google bereit, seine Seele zu verkaufen. Anzunehmen, dass dabei mehr als die berühmt-berüchtigten 30 Silberlinge herausspringen werden. "Don't be evil" war lediglich ein Marketingspruch, zugegebenermaßen jedoch ein schöner, wir hätten so gern daran geglaubt. Die Herausnahme aus dem Verhaltenskodex dient der Verkleinerung der moralischen Fallhöhe, das neue Unternehmensmotto lautet: Was man nicht verspricht, kann man nicht brechen.

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[1] Golem.de vom 21.05.2018
[2] Wayback Machine (Stand: 21.04.2018)
[3] heise.de vom 16.09.2018
[4] New York Times vom 19.02.2006