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| Impressum 22. September 2018, von Michael Schöfer Oh Herr, lass endlich Weisheit regnen Die Menschen reagieren leider selten auf Warnungen. Würde man ihnen das unmittelbar bevorstehende Ende der Welt voraussagen, würden sie wohl weiterhin ungerührt den Sommerurlaub des nächsten Jahres planen. Motto: "Ach, was der wieder sagt…" Nun treffen Weltuntergangsprognosen zum Glück nie ein (erinnern Sie sich noch an die für das Jahr 2012?), was die Sorglosigkeit durchaus rechtfertigt. Für andere Vorhersagen gilt das allerdings nicht. Der Prophezeiung, dass ein gewisser Adolf Hitler großes Unglück über die Menschheit bringen wird, wollten die meisten bis zuletzt keinen Glauben schenken. Sämtliche Warnungen wurden in den Wind geschlagen. Im Gegenteil, begeistert hoben viele den rechten Arm zum "Deutschen Gruß". Und dann hatten sie den Salat: Weltkrieg, Konzentrationslager, Holocaust, zerbombte Städte, Flucht und Vertreibung. "Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch", prophezeite Bert Brecht bereits kurz nach Ende der Nazi-Diktatur. Offenbar zu Recht. Und es ist wirklich erstaunlich, wie wenig selbst heute solchen Vorhersagen geglaubt wird. Wie bitte? Aus Schaden wird man klug, behaupten Sie? So etwas wie 1933 wird deshalb nie wieder passieren? Na, ich weiß nicht... Bei der Recherche in anderer Sache ist mir zufällig wieder eine sehr aufschlussreiche Bundestagsdrucksache in die Hände gefallen, die ich Ihnen keinesfalls vorenthalten will. Am 23. November 1992 verübten Neonazis in Mölln einen Brandanschlag auf zwei Häuser - dabei starben zwei türkische Mädchen (10 und 14 Jahre alt) und ihre 51-jährige Großmutter. Bundeskanzler Helmut Kohl rechtfertigte seine Abwesenheit bei der Trauerfeier mit den Worten, die Bundesregierung wolle nicht in einen "Beileidstourismus" verfallen. Vor diesem Hintergrund fand am 10. Dezember 1992 eine Bundestagsdebatte statt, in der der damalige Ministerpräsident des Saarlandes, Oskar Lafontaine (seinerzeit SPD), u.a. folgende denkwürdige Worte fand:
"Wie konnte es zu einer solchen Renaissance des
Rechtsradikalismus kommen? (…) Meine Damen und Herren, wir
dürfen (...) die Gefahr nicht unterschätzen, die darin
liegt, daß nationalistische oder rassistische
Stammtischparolen bei vielen Menschen verfangen, die nicht
zur rechtsradikalen Szene gehören. Hier müssen wir die
Denkmechanismen und Verhaltensweisen verstehen und erklären
lernen, um an der richtigen Stelle richtig reagieren zu
können. Zur wirklichen Gefahr für unser Staatswesen würden
die Schlägerbanden und die Heil-Hitler-Kommandos, die
Ausländer überfallen und Asylbewerberheime anzünden, erst
dann, wenn eine große rechtsradikale Volksbewegung ihre
Gesinnung teilte. Es ist ja nicht zu leugnen, daß wir
derzeit mit großen sozialen Problemen konfrontiert sind, die
- wie wir alle wissen - einer Radikalisierung der Menschen
Vorschub leisten. Kulturelle Liberalität erreicht diejenigen
nicht, die sich existentiell bedroht fühlen. (…)
Im Einzelfall ist uns der Fremde immer noch eine willkommene Bereicherung. In der Masse aber wird er von vielen als Bedrohung empfunden. Denjenigen, denen es gut geht, die eine schöne Wohnung haben, die ein hohes Einkommen haben, wird dies vielleicht nicht viel sagen. Aber für viele andere, denen es nicht so gut geht, die eine erschwingliche Wohnung suchen, die um ihren schlechtbezahlten Arbeitsplatz fürchten, die täglich mit den Fremden um knappe Güter konkurrieren, für diese Menschen hat das Gefühl der Bedrohung einen realen Hintergrund. Das Gefühl der Bedrohung löst im Verhalten der Menschen Abwehrmechanismen aus. Dies ist die Grundlage, auf der sich die Fremdenfeindlichkeit derzeit in Deutschland ausbreitet. Der Ausländer wird zum Sündenbock. Arbeitslosigkeit und wachsende Wohnungsnot führen dazu, daß in dem anderen nicht mehr der Mitmensch, sondern nur noch der Konkurrent um soziale Güter gesehen wird. Durch die soziale Schieflage werden die Menschen verunsichert. Mit dem Gefühl der Verunsicherung oder gar der Bedrohung wächst das Bedürfnis der Menschen nach Sicherheit. Mit dem Bedürfnis nach Sicherheit wächst auch die Anfälligkeit für rechtsradikale 'law and order'-Parolen. Wer den Rechtstrend stoppen will, darf das Bedürfnis der Menschen nach Sicherheit nicht ignorieren, vor allen Dingen nicht das Bedürfnis nach sozialer Sicherheit. (…) Meine Damen und Herren, es ist nach meiner Überzeugung nicht damit getan, daß wir alle über den rechtsradikalen Terror Betroffenheit zeigen. Es kommt jetzt vielmehr darauf an, die sozialen und kulturellen Nährwurzeln des Rechtsradikalismus abzuschneiden. Dazu brauchen wir zum einen einen republikanischen Begriff der Nation, der Menschen anderer Abstammung nicht ausgrenzt, und zum anderen eine Politik, mit der die soziale Gerechtigkeit und die demokratische Teilhabe als Fundament unserer Gesellschaftsordnung weiter ausgebaut werden." [1] Das Abstammungsprinzip bei der Staatsangehörigkeit wurde inzwischen aufgegeben, aber die sozialen Ursachen, die den Rechtsextremismus begünstigen, sind nach wie vor vorhanden. 1992 ging es um das Verbrechen in Mölln, Lafontaines Rede hätte aber auch ins Jahr 2018 und auf die Vorkommnisse in Chemnitz gepasst. Beunruhigend, dass sich seitdem trotz der eindringlichen Warnung an der sozialen Ignoranz der Regierenden kein Jota geändert hat. Die Wohnungsnot, die Lafontaine damals beklagte, ist mittlerweile sogar noch schlimmer geworden. Auch die Verunsicherung hat durch Hartz IV, Altersarmut und Pflegechaos zugenommen. Und was macht die Politik? Sie sieht in der Migration "die Mutter aller Probleme" und will sich mit "Law and Order"-Parolen profilieren. Oh Herr, lass endlich Weisheit regnen (vor allem auf die CSU). ----------
[1] Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll
12/128, Seite 11043 ff, PDF-Datei mit 4 MB
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