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30. September 2018, von Michael Schöfer
Eine schwierige Gemengelage: Wann und wie geht Merkel?


Mein Gott, hätte Angela Merkel ein Jahr nach der Bundestagswahl 2013, bei der die Union mit 41,5 Prozent der Stimmen im Deutschen Bundestag nur knapp die absolute Mehrheit der Mandate verfehlte, ihre Ämter als Parteivorsitzende und Bundeskanzlerin an eine Nachfolgerin/einen Nachfolger weitergereicht - die CDU hätte ihr landauf, landab Denkmäler errichtet. Damals stand sie im Zenit ihrer Macht, heute muss sie dagegen um dieselbe bangen. Nach der Abwahl des CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden Volker Kauder wird im Blätterwald vernehmlich über eine Abwahl von Angela Merkel als Parteivorsitzende spekuliert. Vom 6. bis 8. Dezember 2018 findet in Hamburg der 31. Bundesparteitag der CDU statt. Verliert Merkel dort den Parteivorsitz, müsste sie eigentlich auch als Kanzlerin zurücktreten, denn Anfang des Jahres sagte sie im ZDF unmissverständlich: "Für mich gehören diese beide Ämter [Parteivorsitz und Kanzlerschaft] in eine Hand, um auch eine stabile Regierung bilden zu können. Dabei bleibt es." Sie bekräftigte obendrein, die volle Legislaturperiode als Bundeskanzlerin im Amt bleiben zu wollen: "Die vier Jahre sind jetzt das, was ich versprochen habe. Und ich gehöre zu den Menschen, die Versprochenes auch einhalten." [1]

Politiker gehen selten freiwillig, in der Regel werden sie gegangen. Bislang hat es noch kein Bundeskanzler geschafft, aus eigenem Antrieb den Staffelstab weiterzureichen:
  • Konrad Adenauer (Bundeskanzler von 1949 bis 1963) verlor bei der Bundestagswahl 1961 die absolute Mehrheit und versprach, rechtzeitig vor der nächsten Wahl zurückzutreten. Nachdem er sich lange weigerte, einen konkreten Rücktrittstermin zu nennen, schied er unter dem Eindruck der Spiegel-Affäre im Oktober 1963 aus dem Amt.
  • Ludwig Erhard (1963-1966) hatte es von vornherein schwer, weil ihn viele für das Amt des Bundeskanzlers als ungeeignet ansahen, er galt deshalb als Übergangskanzler. Deutschland erlebte während seiner Amtszeit einen schweren Konjunktureinbruch mit einem signifikanten Anstieg der Arbeitslosigkeit, weshalb die CDU etliche Landtagswahlen verlor. Nachdem die FDP aus der Regierung ausschied, wählte die CDU/CSU-Bundestagsfraktion - welch ein Affront - Kurt Georg Kiesinger zum Kanzlerkandidaten, der - damals ein Novum - mit der SPD eine große Koalition vereinbarte. Erhard trat gedemütigt zurück.
  • Kurt Georg Kiesinger (1966-1969) büßte 1969 bei der Bundestagswahl die Regierungsmehrheit ein und musste der sozial-liberalen Koalition unter Willy Brandt weichen.
  • Willy Brandt (1969-1974) wiederum, bis heute eine Ikone der Sozialdemokratie, stürzte über die Guillaume-Affäre. Die DDR hatte im Kanzleramt einen Spion installiert. Für den Sturz Brandts sollen aber auch Intrigen Herbert Wehners und Helmut Schmidts verantwortlich gewesen sein.
  • Helmut Schmidt verlor sein Amt als Bundeskanzler am 1. Oktober 1982, nachdem die FDP die Regierung verließ und ihn gemeinsam mit der Union durch das konstruktive Misstrauensvotum stürzte.
  • Helmut Kohl (1982-1998) ist zwar der Kanzler mit der bislang längsten Amtszeit, wurde aber dennoch (oder gerade deshalb) 1998 bei der Bundestagswahl klar und deutlich abgewählt (-6,3 % für die Union). Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik wechselten die Wählerinnen und Wähler eine Regierung vollständig aus.
  • Gerhard Schröder (1998-2005) verlor wegen dem von ihm betriebenen Umbau des Sozialstaats (Agenda 2010) zahlreiche Landtagswahlen und die SPD viele Mitglieder, so dass er 2005 entnervt vorgezogene Neuwahlen auf Bundesebene ausrief, die er dann prompt verlor (-4,3 % für die SPD).
Von daher stellt sich die berechtigte Frage: Wann stürzt Merkel? Und vor allem: Wie stürzt sie. Die Lage ist kompliziert. Jedes Parteimitglied kann beim Bundesparteitag für den Parteivorsitz kandidieren. Und wenn es für Merkel schlecht läuft, erreicht sie bloß ein bescheidenes Wahlergebnis, erlebt dann sozusagen ihren persönlichen Simone Lange-Moment. Das würde jedoch die längst in Gang gekommene Erosion ihrer Macht unterstreichen. Sofern die Stimmung unter den Delegierten absehbar in diese Richtung läuft, könnte Merkel sich kurzfristig dazu entschließen, in einem letzten Kraftakt den Übergang selbst zu steuern (anstatt ihn ungeregelt laufen zu lassen). Doch wer soll den Parteivorsitz übernehmen? Jens Spahn? Zu jung (erst 38), zu unerfahren und obendrein in der Bevölkerung zu unbeliebt (im DeutschlandTrend September 2018 landete er bei der Zufriedenheit mit seiner politischen Arbeit noch hinter Merkel, Altmaier und von der Leyen). Bezeichnenderweise ist sogar Sahra Wagenknecht (Die Linke) beliebter als der innerparteiliche Widersacher der Kanzlerin. [2]

Am häufigsten wird CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer als mögliche Nachfolgerin genannt, allerdings hat auch sie sich klar und deutlich festgelegt: "In der Geschichte der CDU hat es sich bewährt, Partei- und Regierungsvorsitz in einer Hand zu halten - auf Bundes- wie auf Landesebene." [3] Diesbezüglich gelte das Wort der Kanzlerin. Das wird sie im Bedarfsfall trotzdem nicht daran hindern, den Parteivorsitz zu übernehmen, doch wie wird sie anschließend Kanzlerin? Im Deutschen Bundestag gelten die Vorgaben des Grundgesetzes. Angela Merkel ist vom 19. Deutschen Bundestag am 14. März 2018 mit 364 Ja-Stimmen erneut zur Bundeskanzlerin gewählt worden. Tritt ein vom Bundestag gewählter und vom Bundespräsident ernannter Bundeskanzler nicht zurück, kann er nur durch eine verlorene Vertrauensfrage (Artikel 68 GG) oder durch ein konstruktives Misstrauensvotum (Artikel 67 GG) gestürzt werden. Wenn der Bundeskanzler die Vertrauensfrage verliert, drohen unter Umständen Neuwahlen.

Eine schwierige Gemengelage. Neuwahlen scheuen die Regierungsparteien (CDU, CSU, SPD) momentan wie der Teufel das Weihwasser, denn allen Umfragen zufolge würden sie deutlich an Stimmen verlieren und die absolute Mehrheit der Bundestagsmandate einbüßen. Die Vertrauensfrage zu stellen hat Angela Merkel erst vor kurzem abgelehnt, und niemand kann sie dazu zwingen. Zum Rücktritt ebenso wenig. Scheidet eine einvernehmliche Lösung aus, bleibt nur noch das konstruktive Misstrauensvotum, doch dazu ist die Zustimmung der SPD notwendig, denn die Union hat im Bundestag bekanntlich keine Mehrheit. Wohlgemerkt: Notwendig ist die Kanzlermehrheit, d.h. die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, die einfache Mehrheit reicht in diesem Fall zur Wahl eines anderen Bundeskanzlers nicht aus (Artikel 63 Abs. 4 GG kommt nur nach Bundestagswahlen oder bei einem Rücktritt zum Zuge).

Drohende Neuwahlen vor Augen könnte die SPD einen anderen Bundeskanzler aus den Reihen der Union akzeptieren. Dennoch eine schwierige Entscheidung, weil sie natürlich nicht daran interessiert sein kann, einen CDU-Bundeskanzler aufzubauen und dadurch auch die Bundestagswahl 2021 zu verlieren. Annegret Kramp-Karrenbauer könnte Bundeskanzlerin werden, sie hat zwar kein Bundestagsmandat, doch das ist für die Wahl zum Bundeskanzler keine Bedingung. Kurt Georg Kiesinger war in seiner Zeit als Bundeskanzler ebenfalls kein Mitglied des Bundestages, sondern bis zu seiner Wahl am 1. Dezember 1966 Ministerpräsident in Baden-Württemberg. Kramp-Karrenbauer hat durchaus das Zeug, im Beliebtheitsranking ganz nach oben zu rutschen - etwas, woran die SPD naturgemäß wenig Interesse hat. Für die Sozialdemokraten ein echtes Dilemma: Entweder jetzt Neuwahlen hinnehmen und verlieren oder einen neuen Kanzler der Union großmachen und 2021 verlieren. Gewissermaßen die Wahl zwischen Pest und Cholera.

Problematisch aus der Sicht der Bevölkerung wäre womöglich, dass sich eine Bundeskanzlerin Kramp-Karrenbauer nicht auf ein Wählervotum stützen könnte. Die Bürgerinnen und Bürger würden dann nämlich von einer Kanzlerin regiert, die keine Legitimation des obersten Souveräns der Republik besäße. Verfassungsrechtlich kein Problem, doch vielleicht ein politisches, schließlich sind die Zeiten heute anders als im Jahr 1966. Mittlerweile sitzen sieben Parteien im Parlament, damals waren es bloß vier. Und die Zeit der Volksparteien mit Wahlergebnissen von über 40 Prozent ist offenbar endgültig abgelaufen. Die Oppositionsparteien würden gewiss eine ordentliche Prise Salz in die Wunde streuen. Kramp-Karrenbauer? Wer hat denn die bitteschön gewählt? Doch wieder nur, um im Jargon der AfD zu bleiben, die Altparteien! Für die Rechtspopulisten zweifelsohne ein Schub, weiterhin gegen "das System" zu agitieren und erfolgreich Wählerstimmen einzufangen.

Wie dem auch sei, Merkel hat jedenfalls - wie alle ihre Vorgänger - den Zeitpunkt für einen selbstgewählten Rückzug verpasst. Schmerzlos geht Merkels Abschied wohl kaum über die Bühne, irgendeinen - im übertragenen Sinne - Tod muss sie sterben. Entweder zieht sie sich unter den hämischen Kommentaren ihrer inzwischen recht zahlreichen Gegner freiwillig zurück, oder sie lässt es auf einen Showdown ankommen und hält bis zuletzt krampfhaft an ihrem Amt fest. Wie versprochen bis 2021 durchzuhalten und Kramp-Karrenbauer als Kanzlerkandidatin in die nächste Bundestagswahl zu schicken, käme einem Marathon gleich, denn bis dahin hat die CDU eine Europawahl und 12 Landtagswahlen zu bestehen - die nächsten schon am 14. Oktober 2018 in Bayern und am 28. Oktober 2018 in Hessen. Gerhard Schröder, der nach Verkündung der Agenda 2010 alle Landtagswahlen und die Europawahl verlor, kann ein Lied davon singen. Die Erfahrung zeigt jedoch: Sobald es ans Eingemachte geht, kann die CDU gnadenlos sein und ist dann bereit, jeden abzuservieren - auch die Bundeskanzlerin (mit allen oben beschriebenen Schwierigkeiten beim Procedere). Einfach wird der Abschied nicht, weder für Angela Merkel noch für die Regierungsparteien, aber das haben sie sich selbst eingebrockt.

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[1] Nordkurier vom 11.02.2018
[2] Statista, Ergebnis DeutschlandTrend September 2018
[3] Redaktionsnetzwerk Deutschland vom 29.09.2018