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22. Oktober 2018, von Michael Schöfer
Nachrüstungsdebatte 2.0 ante portas?


Und noch ein Vertrag, den US-Präsident Donald Trump in die Tonne wirft. Seine Ankündigung, aus dem INF-Vertrag auszusteigen, könnte sich allerdings als die bislang folgenreichste entpuppen. Mit dem 1987 von Ronald Reagan und Michail Gorbatschow unterzeichneten Vertrag verzichteten die USA und die damals noch existierende UdSSR auf die Produktion und Stationierung von landgestützten Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5.500 km. Anfang der achtziger Jahre führte diese Waffengattung in Europa zu heftigen Diskussionen, Grund war der Nato-Doppelbeschluss von 1979. Die geplante Stationierung von 108 amerikanischen Pershing II-Raketen und 464 Tomahawk-Marschflugkörpern schürte Befürchtungen, die USA könnten einen Atomkrieg für führ- und gewinnbar halten. Als Schlachtfeld sei Europa auserkoren, was für die Europäer einem nuklearen Armageddon gleichkäme. Es kursierten jedenfalls entsprechende Papiere von Militärberatern, zum Beispiel "Victory is possible" von Colin S. Gray und Keith Payne.

Wichtig im Zusammenhang mit der Nachrüstungsdebatte war, ob die Pershing II innerhalb von wenigen Minuten Moskau erreichen kann und somit als eine zum präzisen Enthauptungsschlag geeignete Waffe anzusehen ist. Die Bundesregierung gab die Reichweite der Pershing II mit 1.800 km an, sie könne daher gar nicht das Machtzentrum der Sowjetunion erreichen. [1] Das renommierte Friedensforschungsinstitut SIPRI war sich angesichts zum damaligen Zeitpunkt noch ausstehender Testergebnisse nicht ganz sicher, wies aber bereits auf eine in der Entwicklung befindliche Pershing mit einer Reichweite von 4.000 km hin. [2] Da die Pershing auf mobilen Abschussrampen stationiert war, hätte sie von grenznahen Abschussorten aus starten können. Und von Hof in Bayern oder von Passau aus sind es bis Moskau Luftlinie gut 1.800 km. Eine verbesserte Version der Rakete wurde durch den INF-Vertrag obsolet. Dass Moskau innerhalb der Reichweite der Cruise Missiles (2.500 km) lag, blieb freilich unbestritten.

Das sei Schnee von gestern, werden Sie vielleicht einwenden. Mag sein, doch nach der Aufkündigung des INF-Vertrags stellt sich die durchaus berechtigte Frage, ob die USA erneut Mittelstreckenraketen in Europa stationieren wollen. Selbst wenn Russland den INF-Vertrag durch die Entwicklung von landgestützten Marschflugkörpern des Typs SS-C-8 mit einer vermuteten Reichweite von 2.600 km gebrochen haben sollte, bleibt immer noch eine offenkundige strategische Disparität: Russland kann zwar mit Mittelstreckenwaffen ganz Europa erreichen, das amerikanische Staatsgebiet bleibt damit freilich außen vor. Umgekehrt könnten jedoch amerikanische Mittelstreckenraketen vom Nato-Gebiet aus die russischen Kommandozentralen treffen, zumal die Nato mittlerweile viel näher an Russland herangerückt ist (Nato-Osterweiterung). Es geht also nicht bloß um die drohende quantitative Aufrüstung, sondern um eine qualitative Veränderung der gegenwärtig vorhandenen strategischen Fähigkeiten. Angesichts eines grundsätzlich unberechenbaren US-Präsidenten eine noch viel beunruhigendere Aussicht als zu Beginn der achtziger Jahre. Sollte allerdings Russland tatsächlich den INF-Vertrag gebrochen haben, wäre das an Dummheit kaum zu überbieten. Wladimir Putin schuldet der Öffentlichkeit eine plausible Erklärung.

Die Europäer sind momentan auf das Geschehen ohne großen Einfluss. Sie sollten jedoch umgehend klarmachen, dass sie nicht gewillt sind, auf ihrem Staatsgebiet die Stationierung von amerikanischen Mittelstreckenraketen zu dulden. Es ist notwendig, dass wir uns von den Amerikanern emanzipieren und uns künftig selbst um die Verteidigung Europas kümmern. Nur so können wir verhindern, weiterhin Spielball der militärischen Großmächte zu bleiben.

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[1] Bundesministerium der Verteidigung, Weißbuch 1983, Seite 79 und Deutscher Bundestag, Drucksache 10/5037 vom 14.02.1986, PDF-Datei mit 395 kb
[2] SIPRI, Atomwaffen in Europa, Hamburg 1983, Seite 61