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08. Januar 2019, von Michael Schöfer
Das K-Wort verströmt den Charme eines adipösen Rentners

Das Leben besteht, Gott sei's geklagt, zu einem Großteil aus Illusionen. Etwa, wenn alte Säcke in völliger Verkennung der Realität jungen Damen hinterherstolzieren und sich dabei nicht selten zum Narren machen. "Hey, Alter, hast Du mal in den Spiegel geguckt?" Bittere Erkenntnis: Auch Don Juans kommen in die Jahre. Das geht nicht bloß bedauernswerten Individuen so, sondern selbst ganzen Völkern. Die Briten, die sich in wenigen Wochen aus der EU verabschieden, träumen insgeheim wohl immer noch vom Glanz und Gloria des Empire: "Rule, Britannia! Britannia rule the waves; Britons never will be slaves." Angesichts des nahenden Brexits chartert die britische Regierung, die im House of Commons keine eigene Mehrheit hat (Theresa May ist bekanntlich Chefin einer Minderheitsregierung), Fähren bei einer Reederei, die keine eigenen Schiffe besitzt. Nun, dann kann ja nichts mehr schiefgehen. 1740 mag "Rule, Britannia" unbestreitbar zugetroffen haben, aber heute verströmt die inoffizielle Nationalhymne des United Kingdom eher den Charme eines adipösen Rentners, der sich mit stolzgeschwellter Brust rühmt, in jungen Jahren einmal Marathon gerannt zu sein. Hübsche Erinnerung, für die erbärmliche Gegenwart allerdings völlig nutzlos.

Die SPD ist zweifelsohne eine traditionsreiche Partei, die älteste in Deutschland. Deren stellvertretender Vorsitzender, Olaf Scholz, hat gerade verkündet, er traue sich den Job des Kanzlers durchaus zu, was - wohlgemerkt, zweieinhalb Jahre vor der nächsten Bundestagswahl - die Diskussion über den künftigen Kanzlerkandidaten der Sozialdemokraten eröffnet hat. Doch auch die verströmt aktuell bloß den Charme des besagten adipösen Rentners. Nicht falsch verstehen, Willy Brandt und Helmut Schmidt sind unvergessen. Und an Gerhard Schröder vermag man sich immerhin noch mit Bauchgrimmen erinnern. Aber ist die Absicht, einen Kanzlerkandidaten zu benennen, für eine Partei, die momentan laut Sonntagsfrage (wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre…) hinter der Union und den Grünen auf dem dritten Platz steht, nicht reichlich vermessen? Wenn es ganz schlecht läuft, müssen sich die Sozis sogar der AfD geschlagen geben und kommen nur als Vierter über die Ziellinie. Wer sich im Sinkflug befindet, darf zwar von Höhenflügen träumen, sollte aber nicht erwarten, dass sie auch Realität werden. Alles andere wäre nämlich, genau, eine Illusion.