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22. Januar 2019, von Michael Schöfer
Ist das die Schuld der direkten Demokratie?


Das Referendum über die britische Mitgliedschaft in der EU wird häufig als Negativbeispiel für die direkte Demokratie angeführt, doch zielt diese Kritik meiner Auffassung nach am Kern des Problems vorbei. Die Briten hatten am 23. Juni 2016 über folgende Frage zu entscheiden:

Sollte das Vereinigte Königreich Mitglied der Europäischen Union bleiben oder die Europäische Union verlassen?
O Mitglied der Europäischen Union bleiben
O Die Europäische Union verlassen

Zutreffendes bitte ankreuzen. Und das haben sie auch getan, bekanntlich waren knapp 52 Prozent für den Brexit. Eigentlich ganz einfach, nicht wahr? Natürlich kann man sich darüber streiten, ob für den Ausgang des Referendums die Verlogenheit der Vote Leave-Kampagne, die zunehmende soziale Spaltung des Landes, die umstrittene Einwanderungspolitik, rückwärtsgewandte Empire-Sehnsucht oder das Feindbild Brüssel verantwortlich war. Was immer die Ursachen gewesen sind, die zum Ausgang des Referendums geführt haben (vermutlich von allem etwas), für eines haben die Bürger definitiv nicht gestimmt: für das gegenwärtige Chaos kurz vor dem Austrittstermin. Das Chaos ist daher in meinen Augen auch nicht der direkten Demokratie, sondern einzig und allein der Regierung und dem Parlament anzulasten.

Theresa May hat nach ihrer Regierungsübernahme am 13. Juli 2016 erst einmal viel Zeit vergeudet, ohne sich inhaltlich mit dem Austrittsproblem zu befassen und die Austrittsverhandlungen vorzubereiten. Stattdessen wiederholte sie ständig die Leerformel "Brexit heißt Brexit", womit sie sich den wenig schmeichelhaften Spitznamen "Maybot" einhandelte. Die Premierministerin will trotz der desaströsen Abstimmungsniederlage (432 zu 202 gegen den mit der EU ausgehandelten Austrittsvertrag) weiterhin mit dem Kopf durch die Wand. Wohlgemerkt, mit demselben Kopf durch die gleiche Wand. Nach dem derzeitigen Stand will sie nämlich den Austrittsvertrag fast unverändert abermals zur Abstimmung stellen. Beobachter registrieren das zu Recht mit Fassungslosigkeit. Ob May in Brüssel überhaupt Vertragsänderungen erreichen kann, steht in den Sternen. Ebenso, ob die Mehrheit der Abgeordneten umschwenkt (wahrscheinlich nicht). Nur wenn May das Kunststück gelingt, den Austrittsvertrag doch irgendwie durchzubringen, ist sie die Superheldin. Ihre Chancen tendieren allerdings gegen null.

Theresa May geht nicht substanziell auf die Labour-Opposition zu, offensichtlich versucht sie die Quadratur des Kreises zur politischen Weisheit zu erklären. Sie will keine Verlängerung des Austritts gemäß Artikel 50 des EU-Vertrages. Sie will kein zweites Referendum, das unter Umständen den Brexit widerruft. Sie will nach dem Austritt keine Zollunion mit der EU eingehen (es sei denn, die EU würde dabei u.a. auf die Freizügigkeit der Arbeitnehmer verzichten). Sie will aber auch keinen No-Deal-Brexit und keine harte Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland. Wie soll das gehen? May bleibt die Antwort schuldig. Obendrein kann sich das Parlament nur darüber verständigen, was es nicht will (den ausgehandelten EU-Austrittsvertrag). Auswege aufzeigen? Eigene Initiative ergreifen? Fehlanzeige! Zumindest bislang.

Es ist die Tragik Großbritanniens, in dieser extrem wichtigen Phase des Landes nur über kleinmütige Politiker zu verfügen. Es war einmal anders, wie wir wissen. Winston Churchill warnte frühzeitig vor der aggressiven Politik Hitlers, während die Regierung unter Neville Chamberlain sich noch lange der Illusion ihrer Appeasementpolitik hingab (beide gehörten der Conservative Party an). Churchill wurde schließlich Kriegspremier, bei der Rettung des Königreiches spielte er eine entscheidende Rolle. Der damalige US-Senator John F. Kennedy schildert in seinem 1956 erschienenen Buch "Zivilcourage" (Originaltitel "Profiles in Courage") das Leben amerikanischer Politiker, die gegen alle Widerstände ihren Grundsätzen treu geblieben sind. Oft genug zu ihrem persönlichen Nachteil und gegen die Mehrheit ihrer eigenen Partei vertraten sie standhaft das, was ihrer Meinung nach dem Wohle des Landes diente und den Prinzipien der Verfassung entsprach. Unabhängig davon, wie man im Einzelfall zu den jeweiligen Beispielen stehen mag, muss man wenigstens eines konstatieren: Die politischen Parteien Großbritanniens sind derzeit offenkundig außerstande, Politiker solchen Formats hervorzubringen. Warum auch immer.

Doch ist das alles der direkten Demokratie anzulasten? Ich meine, nein. Für mich ist vielmehr evident: Das Chaos des Brexit ist ausschließlich auf das Versagen der repräsentativen Demokratie zurückzuführen.