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25. Januar 2019, von Michael Schöfer
Das Scheitern einer Illusion


Man muss sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen, wie klarsichtig Rosa Luxemburg, die Ikone der Linken, im Jahr 1918 die russische Revolution abkanzelte: "Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder der öffentlichen Institution, wird zum Scheinleben, in der die Bürokratie allein das tätige Element bleibt. Das öffentliche Leben schläft allmählich ein, einige Dutzend Parteiführer von unerschöpflicher Energie und grenzenlosem Idealismus dirigieren und regieren, unter ihnen leitet in Wirklichkeit ein Dutzend hervorragender Köpfe, und eine Elite der Arbeiterschaft wird von Zeit zu Zeit zu Versammlungen aufgeboten, um den Reden der Führer Beifall zu klatschen, vorgelegten Resolutionen einstimmig zuzustimmen, im Grunde also eine Cliquenwirtschaft - eine Diktatur allerdings, aber nicht die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur einer Handvoll Politiker, d.h. Diktatur im bürgerlichen Sinne…" [1] Und das bereits 1918! Während andere bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein den Repressionsapparat östlich der Elbe rechtfertigten, weil dieser angeblich etwas mit Sozialismus zu tun habe. Sie irrten sich gewaltig.

Nach dem Implodieren der Sowjetunion träumten viele Linke vom "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" und hatten dabei vor allem Venezuela im Blick. Doch sie machten den gleichen Fehler und irrten erneut, denn was ist daraus geworden? Siehe oben bei Luxemburg: eine Diktatur. Und zwar eine, in der eine kleine Clique das Volk unterdrückt und sich schamlos bereichert. Abgesehen davon glänzt diese Clique vor allem mit ökonomischer Inkompetenz. Venezuelas Wirtschaft liegt nicht am Boden, sie ist buchstäblich inexistent. Außer Öl, die Finanzquelle der Machthaber, produziert sie nichts. Das Land ächzt unter einer Hyperinflation von 1,4 Mio. Prozent (Stand: 2018), 87 Prozent der Venezolaner gelten als arm, 61,2 Prozent leiden sogar unter extremer Armut. Im Grunde unvorstellbar. Die Regierung kann sich daher bloß noch mit Waffengewalt halten.

Ist die Regierung von Nicolás Maduro legal im Amt? Dazu muss man bis zur Parlamentswahl 2015 zurückgehen, bei der die Opposition mit 56,3 Prozent einen Erdrutschsieg einfuhr. Mit Hilfe des willfährigen Obersten Gerichtshofs wurde allerdings deren dabei errungene Zwei-Drittel-Mehrheit, die zu einer vorzeitigen Abberufung von Maduro hätte führen können, sofort zunichtegemacht. Der Präsident griff weiter in die Trickkiste: Die im Juli 2017 gebildete Verfassungsgebende Versammlung, in der seine Anhänger durch Wahlmanipulationen die Mehrheit erreichten, übertrug sich anschließend selbst die gesamte Staatsgewalt und entmachtete somit die von der Verfassung vorgesehene Legislative durch einen "Putsch von oben". Die Verfassungsgebende Versammlung maßte sich Kompetenzen an, die ihr gar nicht zustanden. Spätestens zu diesem Zeitpunkt verlor die Regierung ihre Legitimität. Dass sie sich nach wie vor auf die Gewehre der Armee stützen kann, ist bei der Beurteilung, ob Nicolás Maduro der rechtmäßige Präsident des Landes ist, vollkommen irrelevant. Beobachter bezeichneten die Präsidentschaftswahl im Mai 2018 als unfrei, u.a. weil Regierungskritiker an der Kandidatur gehindert wurden.

Anhänger von Maduro stellen die Krise natürlich als eine unzulässige Einmischung der US-Imperialisten dar - ganz so, als ob er weiterhin die Interessen des Volkes vertreten würde. Ein griechisches Sprichwort lautet: "Zeig mir deine Freunde, und ich sage dir wer du bist." Erwartungsgemäß wird der venezolanische Autokrat von lauter Autokraten unterstützt: Daniel Ortega (Nicaragua), Evo Morales (Bolivien), Wladimir Putin (Russland), Recep Tayyip Erdogan (Türkei) sowie den Regierungen Chinas, Kubas und dem Iran. Eine wirklich feine Gesellschaft. Gewiss, die USA haben in Lateinamerika tatsächlich schon von jeher eine unrühmliche Rolle gespielt, aber das ändert an der Beurteilung der Legitimität der Regierung von Nicolás Maduro keinen Deut. Dass die USA etwa 1973 den chilenischen Präsidenten Salvador Allende durch das Monster Augusto Pinochet wegputschen ließen, kann ja heutzutage wohl kaum die Unterdrückung der Venezolaner rechtfertigen, die antiimperialistische Propaganda Maduros wird dadurch nur ein bisschen erleichtert. Doch mit hohlen, pseudorevolutionären Phrasen wird das Volk nicht satt und der Verfassungsbruch nicht geheilt.

Der Konflikt zwischen Regierung und Opposition wird sich vermutlich verschärfen, da die bereits jetzt unerträglichen Lebensverhältnisse wohl noch schlimmer werden (sofern das angesichts der desaströsen Lage überhaupt möglich ist). Der soziale Kollaps droht Venezuela in einer Orgie der Gewalt zu zerreißen. Der einzige, aber recht unwahrscheinliche Ausweg wären freie Wahlen und wirtschaftliche Hilfe von außen. Doch vielleicht wechseln ja auch Teile der Armee die Seiten und laufen zur Opposition über. Da die Armeeführung offenbar treu zu Maduro steht, ist die Angst vor einem Bürgerkrieg real. Die Situation ist zweifellos verfahren, aber das ist einzig und allein die Schuld der korrupten Regierung, die trotz gegenteiligem Votum des Volkes einfach nicht weichen will.

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[1] Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Dietz-Verlag Berlin 1979, Band 4, Seite 362