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28. Januar 2019, von Michael Schöfer
Ein fataler kultureller Rückschritt


YouTube will keine Videos mehr mit verschwörungstheoretischem oder irreführendem Inhalt empfehlen, die Europäische Union geht ebenfalls gegen falsche Nachrichten vor. Auch Google und Facebook versprechen, gegen Fake-News kämpfen zu wollen. Die Bundesregierung plant angeblich sogar gesetzliche Maßnahmen. Doch das Grundproblem bleibt: Wer legt fest, was eine falsche Nachricht ist? Wer darf sich gleichsam zum Hüter der Wahrheit aufschwingen? Es geht nicht darum, Falschinformationen inhaltlich zu verteidigen, sondern darum, sensibel dafür zu machen, wie gefährlich Restriktionen sind.

"Wie YouTube in einem Blogbeitrag schreibt, überarbeite man das allgemeine Empfehlungssystem und werde dabei solche Videos zurückstufen, die falsche oder grob irreführende Inhalte wiedergeben würden. Als Beispiele nennt der Blogbeitrag erfundene Heilmittel für schwere Erkrankungen sowie Verschwörungstheorien wie die, dass die Erde eine Scheibe sei oder dass die Anschläge vom 11. September 2001 von US-amerikanischen Geheimdiensten organisiert worden seien." [1] Haben Meinungen, seien sie auch noch so abstrus, kein Recht darauf, Gehör zu finden? Werden dadurch Debatten nicht von vornherein abgewürgt? Schließlich ist der öffentliche Diskurs konstitutiv für die Demokratie.

Ich bin dafür, das Grundrecht der Meinungsfreiheit möglichst weit auszulegen - ganz so, wie es das Bundesverfassungsgericht tut: Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit schützt nicht nur sachlich-differenzierte Äußerungen, Kritik darf auch pointiert, polemisch und überspitzt erfolgen. [2] "Auch scharfe und überzogene Kritik entzieht eine Äußerung nicht dem Schutz des Grundrechts. Werturteile sind vielmehr durchweg von Art. 5 Abs. 1 GG geschützt, ohne daß es darauf ankäme, ob die Äußerung 'wertvoll' oder 'wertlos', 'richtig' oder 'falsch', emotional oder rational ist." [3] Wenn folglich jemand behauptet, die Anschläge vom 11. September 2001 seien von US-amerikanischen Geheimdiensten organisiert worden - so what? Das mag ärgerlich und für die Hinterbliebenen der Opfer schmerzlich sein, ist aber dennoch kein Grund, die Meinungsfreiheit einzuschränken.

Ein anderes Beispiel: Seit Isaac Newton (1643 - 1727) die Gesetze der klassischen Mechanik niederschrieb, galten Raum und Zeit als absolut. "Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf irgendeinen äußeren Gegenstand. (...) Der absolute Raum bleibt vermöge seiner Natur und ohne Beziehung auf einen äußeren Gegenstand stets gleich und unbeweglich", schrieb er 1686 in seiner Philosophiae Naturalis Principia Mathematica. Will heißen: Die Zeit verstreicht immer und überall absolut gleichmäßig. Und der physikalische Raum ist unabhängig von den darin stattfindenden physikalischen Vorgängen. Newton gilt als einer der bedeutendsten Wissenschaftler aller Zeiten und die Principia Mathematica als eines der wichtigsten wissenschaftlichen Werke, er war lange Zeit die Wissenschafts-Koryphäe überhaupt.

Nehmen wir einmal an, zu Beginn des 20. Jahrhunderts hätte es bereits das Internet gegeben, und ein gewisser Albert Einstein hätte damals die Frechheit besessen, auf YouTube in einem Video Isaac Newtons wissenschaftliche Theorie und dessen Renommee anzugreifen. Dieser Einstein würde darin allen Ernstes behaupten, Raum und Zeit seien als Einheit (Kontinuum) anzusehen und zudem von unterschiedlichen physikalischen Bedingungen abhängig. Anders ausgedrückt: Raum und Zeit seien variabel, keineswegs absolut. Materie würde vielmehr den Raum krümmen, der gekrümmte Raum wiederum der Materie den Weg vorgeben und die Zeit je nach Geschwindigkeit oder Schwerkrafteinfluss schneller respektive langsamer verlaufen. Obendrein hätte der Sprücheklopfer, anfangs lediglich als technischer Experte 3. Klasse beim Schweizer Patentamt in Bern angestellt, keinerlei empirische Belege vorzuweisen. Seine ganze "Theorie" besteht - man höre und staune - aus ein paar unverständlichen Formeln, die über insgesamt dreieinhalb Seiten verteilt sind. Nur dreieinhalb Seiten, stellen Sie sich das mal vor!

Da will einer mit einem bisschen Geschreibsel die wissenschaftliche Welt aus den Angeln heben und Götter vom Thron stürzen? Das Urteil von YouTube stünde wohl schnell fest: "Fake-News! Scharlatan! Dass Raum und Zeit absolut sind, ist schließlich eine seit mehr als 200 Jahren feststehende Tatsache. Wie kann man nur auf die absurde Idee kommen, es gäbe so etwas wie eine Raumzeit?" Die unvermeidliche Konsequenz: YouTube würde die Menschheit vor einer derart abstrusen Verschwörungstheorie schützen, Einsteins Video zurückstufen, wenn nicht sogar komplett löschen. Das Dumme ist bloß, der vermeintliche Scharlatan hat recht.

Natürlich ist die Erde keine Scheibe, sondern zweifelsfrei eine Kugel, dafür gibt es zahllose Beweise. Und Wissenschaftstheorien werden in den dafür vorgesehenen Publikationen präsentiert und kritisiert. Müssen wir dennoch im Internet den Zugang zu abweichenden Ansichten reglementieren? Ist die Demokratie nicht stark genug, so etwas zu verkraften? Kann eine Demokratie nicht gelassener auf Fake-News reagieren? Wer an die Macht der Aufklärung glaubt, die auf der Vernunft basiert, muss letzteres bejahen. Was verlieren wir eigentlich, wenn manche tatsächlich an die Scheibengestalt der Erde glauben? Wir verlieren nichts, deshalb lasst sie doch einfach. Wo Wahrheiten, von wem auch immer, abgesegnet werden müssen, sollte uns das wachrütteln. Achtung: Freiheit in Gefahr!

Wie wir am Beispiel der Relativitätstheorie von Albert Einstein sehen, kommt es gelegentlich zu revolutionären Änderungen unseres Weltbildes. Plötzlich sind Dinge Konsens, die zuvor von fast allen als vollkommen unmöglich bezeichnet wurden. Arthur Schopenhauer brachte es auf den Punkt: "Neue Ideen werden erst belächelt, dann erbittert bekämpft, und wenn sie sich durchgesetzt haben, waren alle schon immer dafür." Zugegeben, nicht jeder Abweichler ist ein verkanntes Genie à la Galileo Galilei, trotzdem dürfen wir uns nicht in eine Situation bringen, in der die Ignoranz quasi zum Standard erhoben wird. Daher gilt: Skeptisch bleiben, aber auf gar keinen Fall geistig einbetonieren. Die Aufklärung brachte uns die Freiheit, ohne Zensur jede nur denkbare Ansicht zu verbreiten (die Grenze zieht allein das Strafrecht). Und dies gilt auch für völlig abwegige Meinungen. Es wäre ein fataler kultureller Rückschritt, hinter diesen Standard zurückzufallen.

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[1] heise.de vom 27.01.2019
[2] Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 08.02.2017, 1 BvR 2973/14
[3] Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 25.08.1994, 1 BvR 1423/92, dokumentiert bei aufrecht.de, Hervorhebung durch den Autor