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04. Februar 2019, von Michael Schöfer
Freie Wahlen für Venezuela


Teile der Linken machen sich mit ihrer Haltung zu Venezuela total unglaubwürdig, denn sie zeigen, dass es ihnen gar nicht um die Einhaltung der Menschenrechte geht. Stattdessen bemühen sie das formale Argument der Nichteinmischung, um ein ihnen genehmes Regime zu schützen. Ob es legal an der Macht ist und wie es regiert, ist offenbar vollkommen zweitrangig. Als es um die Unterdrückung des chilenischen Volkes durch die Militärjunta Pinochets ging, spielte das Argument der Nichteinmischung übrigens keine Rolle. Und das zu Recht. Aber damals ging es schließlich um ein faschistisches Regime. "Das Klima der Gewalt, der Repression und der Morde ist keine Nebensache. Unsere auf Werte und Regeln basierte Handelspolitik erfordert klare Ansagen: Das Abkommen ist auszusetzen, bis sich die Menschenrechtssituation signifikant verbessert", meint MdEP Helmut Scholz (Die Linke). Er spricht jedoch nicht von Venezuela, sondern von Kolumbien und dem Handelsabkommen der EU mit lateinamerikanischen Staaten. [1]

Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten? Unzulässiger ökonomischer Druck von außen? Wo denken Sie hin? Kolumbien wird vom rechtskonservativen Iván Duque regiert, da ist Kritik natürlich erlaubt. Wenn es dagegen die linke Regierung Venezuelas betrifft werden alle möglichen Argumente vorgebracht, nur eines nicht: die Forderung nach Einhaltung der Menschenrechte. Doch die müssen stets das höchste Ziel sein - ganz egal, wer sie verletzt und wo das geschieht, da ist Einmischung sogar Pflicht. Daraus folgt zwingend: Diesen Linken kann man nicht vertrauen. Wer ein taktisches Verhältnis zu den Menschenrechten hat, disqualifiziert sich selbst. Das ist nicht links, das ist erbärmlich.

Die Linke im Europaparlament hat einen "Aufruf zur Verteidigung des Politischen Dialogs in Venezuela" verbreitet und einen Brief an den Präsidenten des Europäischen Rates und die Ständigen Vertretungen der EU-Mitgliedstaaten geschrieben. Darin heißt es: "Wir, die unterzeichneten MdEPs, sprechen Sie an, um jede Unterstützung für den laufenden Putschversuch in Venezuela zu verurteilen, dargestellt in der Selbstverkündigung von Juan Guaidó als 'Interimspräsident' des Landes. Diese Selbsterklärung ist in keiner Weise durch die Verfassung der Bolivarischen Republik Venezuela gedeckt und wurde zumindest von der Organisation Amerikanischer Staaten, dem Sicherheitsrat, dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen und der CARICOM abgelehnt. Die Anerkennung einer solchen Selbstverkündigung stellt eine erhebliche Bedrohung für das Völkerrecht und die Charta der Vereinten Nationen dar, und zwar in Bezug auf den Grundsatz der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates." [2]

In keiner Weise durch die Verfassung der Bolivarischen Republik Venezuela gedeckt? Artikel 233 der venezolanischen Verfassung: "Ergibt sich vor der Amtseinführung ein zwingender Hinderungsgrund bezüglich der Person des gewählten Präsidenten oder der gewählten Präsidentin, folgen neue allgemeine, direkte und geheime Wahlen innerhalb der nächsten dreißig Tage. Bis der neue Präsident oder die neue Präsidentin gewählt ist und das Amt antritt, nimmt der Präsident oder die Präsidentin der Nationalversammlung die Präsidentschaft der Republik wahr." (Hervorhebung durch den Autor) [3]

Sind manipulierte Präsidentschaftswahlen kein zwingender Hinderungsgrund? Die höchst fragwürdigen Umstände bei der Wiederwahl des Autokraten scheint die Linke im Europaparlament aber nicht zu stören. Außerdem verliert sie kein Wort über die zuvor erfolgte verfassungswidrige Ausschaltung des Parlaments durch die Verfassungsgebende Versammlung. Und kein Wort zu den Menschenrechtsverletzungen der Regierung. Die Linke sucht sich halt nur das heraus, was sie zum Schutz von Maduro brauchen kann. Der Verfassungsbruch zum Nachteil der Opposition wird von ihr geflissentlich ignoriert. Eine perfide Taktik.

Artikel 347 der venezolanischen Verfassung lautet wie folgt: "Das Volk Venezuelas ist der Träger der originären verfassunggebenden Gewalt. In Ausübung dieser Gewalt kann es eine Verfassunggebende Nationalversammlung mit dem Ziel einberufen, den Staat umzugestalten, eine neue Rechtsordnung zu schaffen und eine neue Verfassung zu entwerfen."

Die Verfassungsgebende Nationalversammlung darf also nur eine neue Verfassung ausarbeiten, aber nicht das von der Verfassung vorgesehene Parlament (die Nationalversammlung = die Legislative gemäß Artikel 186ff) entmachten und selbst als Gesetzgeber fungieren, was sie jedoch getan hat. Außerdem muss das Volk eine neue Verfassung vor deren Inkrafttreten per Referendum billigen (Artikel 342ff). Selbst Hugo Chávez hat das anerkannt und unterwarf sich während seiner Amtszeit (1999-2013) drei Verfassungsreferenden: Das Volk stimmte 1999 der Bolivarischen Verfassung zu, 2007 lehnte es die von Chávez vorgeschlagene Verfassungsänderung mehrheitlich ab, 2009 stimmte es hingegen einer weiteren Verfassungsänderung zu. Daran, dass zur Änderung der Verfassung ein Referendum notwendig ist, kann nicht gezweifelt werden. Doch darauf warten wir bislang vergebens, denn eine Volksabstimmung anzusetzen hatte Nicolás Maduro verständlicherweise keinen Mut. Solange freilich die alte Verfassung in Kraft ist, bleibt das Parlament die einzige von der Verfassung vorgesehene Legislative.

Es gab in Venezuela tatsächlich einen Putsch, und zwar einen von oben. Maduro hat mithilfe der Verfassungsgebenden Nationalversammlung und einer willfährigen Justiz die Verfassung gebrochen. Juan Guaidó hat erklärt, sie wieder herstellen zu wollen. Das Recht ist offenkundig auf seiner Seite, nur hat er (noch) nicht die Macht, seine Absichten umzusetzen. Nicht Guaidó ist der Usurpator, sondern Maduro. Artikel 333: "Diese Verfassung verliert nicht ihre Gültigkeit, wenn sie durch einen Gewaltakt nicht mehr befolgt oder wenn sie auf andere als die in ihr vorgesehene Art und Weise außer Kraft gesetzt wird. In einem solchen Fall hat jeder Bürger oder jede Bürgerin, mit öffentlichen Befugnissen oder ohne öffentliche Befugnisse, die Pflicht, dabei mitzuwirken, dass ihre tatsächliche Geltung wiederhergestellt wird."

Wenn der Autokrat nun vorschlägt, man könnte durchaus über vorgezogene Parlamentswahlen reden, ist das ein leicht durchschaubares Manöver. Bei der Parlamentswahl 2015 errang die Opposition mit 56,3 Prozent 109 von insgesamt 167 Mandaten, die Nationalversammlung ist die letzte Bastion der Opposition, die Maduro aber durch Wahlfälschungen schleifen könnte. Immerhin in einem ist der Linken im Europaparlament zuzustimmen: Es sollte eine friedliche politische Lösung geben, das können allerdings nur freie Wahlen unter Aufsicht der Vereinten Nationen sein, um Wahlmanipulationen von vornherein auszuschließen. Und neben der Nationalversammlung muss sich natürlich auch Nicolás Maduro zur Wahl stellen. In freien Wahlen wird sich zeigen, wer die Macht beanspruchen kann.

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[1] Die Linke im Europaparlament vom 16.01.2019
[2] Die Linke im Europaparlament vom 01.02.2019
[3] Botschaft von Venezuela, Verfassung der Bolivarischen Republik Venezuela