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09. März 2019, von Michael Schöfer
Alles hat seine Zeit?


"Alles hat seine Zeit", schreibt Marc Beise in der Süddeutschen. Doch für eines ist seiner Meinung nach die Zeit noch nicht gekommen: für soziale Wohltaten. "Viele glauben, es gehe ausgesprochen ungerecht zu im Land. Werden die Reichen nicht immer reicher und die Armen immer ärmer?", fragt er rhetorisch, um seiner Antwort das Feld zu bereiten: "Wenn Politik sich darauf konzentriert, soziale Wohltaten zu finanzieren, statt darauf, die Bedingungen der Wirtschaft zu verbessern, dann wächst die Armut und sinkt nicht." Beise hält es da ganz mit Ludwig Erhard: "Erst muss das Geld verdient werden, das dann ausgegeben werden kann." [1] Das Perfide an Beises Argumentation: Es ist offenbar nie Zeit für soziale Wohltaten - egal, was passiert. "Die Wirtschaft im Aufschwung bloß nicht abwürgen" oder "Die Wirtschaft im Abschwung bloß nicht schwächen", heißt es je nach Bedarf.

Beise pflegt eine recht einseitige Sicht auf die Wirtschaft. Die Grundrente à la Hubertus Heil? Laut Beise nicht zu finanzieren. Die Abschaffung von Hartz IV? Laut Beise kurzsichtig und falsch. "Wer die Sozialpolitik zum vorherrschenden Ziel der Wirtschaftspolitik macht, verkennt die Herausforderungen der Zeit. Angesichts von Globalisierung und Digitalisierung muss es vorrangig darum gehen, die Arbeits- und Standortbedingungen der Unternehmen zu verbessern, in Infrastruktur und Bildung zu investieren. Nur das schafft Arbeit. Arbeit, die wiederum Wohlstand sichert und einen ambitionierten Sozialstaat überhaupt erst möglich macht." [2] Doch selbst ihm fallen Prognosen schwer, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen: Ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn wird Jobs kosten, prophezeite er Ende 2013. Allerdings trat genau das Gegenteil ein, es gibt so viele Erwerbstätige wie noch nie (2013: 42,3 Mio., 2018: 44,7 Mio.). [3]

In die gleiche Kerbe haut sein Redaktionskollege Nikolaus Piper: "Wichtig ist jetzt [angesichts der nicht enden wollenden Nullzinspolitik der EZB], dass sich die nationalen Regierungen konjunkturgerecht verhalten und populistischen Anfechtungen widerstehen. Was das heißt, lässt sich gut am deutschen Beispiel zeigen. Der Bundeshaushalt sollte nicht mit neuen Sozialkosten wie der Grundrente belastet werden. Auch neue Sparrunden wären falsch. Stattdessen ist jetzt der Zeitpunkt, um die Investitionslücke Deutschlands anzugehen, die sich zum Beispiel im Bildungswesen oder bei der Infrastruktur auftut - selbst wenn die Ausgaben vorübergehend die Einnahmen übersteigen sollten. Vernünftige Finanzpolitik ist umso wichtiger in einer Zeit, in der die Geldpolitik nicht mehr viel ausrichten kann." [4]

Dabei haben Beise und Piper in einem gar nicht mal Unrecht: Deutschland braucht Investitionen. Es gäbe genug zu tun, beispielsweise bei der Digitalisierung oder der Elektromobilität. Hier droht Deutschland den Anschluss zu verlieren. Aber die Investitionsquote, der Anteil der Bruttoinvestitionen am Bruttoinlandsprodukt, stagniert seit langem und liegt heute deutlich unter dem Wert kurz nach der Wiedervereinigung (siehe Grafik). [5]



Sollen dieses Manko aber ausgerechnet die weniger begüterten Rentner durch den Verzicht auf die Grundrente kompensieren? Im Jahr 2017 waren 19,5 Prozent der Rentnerhaushalte armutsgefährdet (Alleinlebende mit weniger als 999 Euro, Paare mit weniger als 1.499 Euro). [6] Die Grundrente wird nach den bislang bekannt gewordenen Plänen von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) so aussehen: Wer mindestens 35 Jahre Beiträge gezahlt hat und trotzdem weniger als 896 Euro Rente bekommt, dem schießt der Staat monatlich bis zu 447 Euro zu. Kosten: jährlich einen mittleren einstelligen Milliardenbetrag. Heil will im Mai den Gesetzentwurf vorlegen.

Wir können uns die Grundrente locker leisten, denn unsere Volkswirtschaft hat 2018 einen Außenhandelsüberschuss in Höhe von 227,8 Mrd. Euro erwirtschaftet. Deutschland exportierte Waren im Wert von 1.317,9 Mrd. Euro, mit einem Plus von 3,0 Prozent war es das fünfte Rekordjahr in Folge. [7] Nur so als Anhaltspunkt, was man mit dem vielen Geld machen könnte: Laut Deutscher Rentenversicherung gibt es in Deutschland 21,043 Mio. Rentnerinnen und Rentner, rein rechnerisch könnte man deren Rente mit dem erwirtschafteten Außenhandelsüberschuss um monatlich 902 Euro anheben. [8] Zum Vergleich: Die durchschnittlich gezahlte Altersrente beträgt für Männer 1.095 Euro und für Frauen 622 Euro. [9] Brutto, wohlgemerkt.

Worauf und wie lange will man denn noch warten? Erst muss das Geld verdient werden, das dann ausgegeben werden kann? Es wird doch längst verdient, bloß kommen die erwirtschafteten Profite nur einer Minderheit zugute, bekanntlich ist der Reichtum hierzulande höchst ungleich verteilt (siehe Grafik). [10]



Nach Angaben der linker Umtriebe völlig unverdächtigen Deutschen Bundesbank besaßen 2014 die reichsten 10 Prozent der Privathaushalte 59,8 Prozent des Nettovermögens und verdienten 36,8 Prozent des Nettoeinkommens. [11] Mir sei noch der Hinweis gestattet, dass die Vermögenden höchst ungern Auskunft über den wahren Umfang ihres Reichtums geben und deren Anteil somit tendenziell eher höher anzusetzen ist.

Pläne, den Reichtum gerechter zu verteilen, etwa durch eine stärkere Besteuerung der Spitzeneinkommen oder durch eine höhere Erbschaftssteuer, werden jedoch konsequent abgeblockt. Dafür gibt es keine politischen Mehrheiten. Getreu dem neoliberalen Credo heißt es stattdessen: Steuersenkungen seien der richtige Weg. Dabei quellen die Anlagemärkte über vor Liquidität, doch es wird mehr spekuliert anstatt - siehe oben - sinnvoll in die Realwirtschaft investiert. An Geld herrscht kein Mangel, es ist nur in den falschen Händen. Die Besserverdienenden kaufen sich in einem völlig überdrehten Immobilienmarkt eine Wohnung nach der anderen, während Durchschnittsverdiener nicht mehr wissen, wie sie die horrenden Mietpreissteigerungen bezahlen sollen.

Alles hat seine Zeit? Welch famose Ausrede, warum man sich gerade in diesem Augenblick nicht um Gerechtigkeit kümmern kann. Und im nächsten ebenso wenig. Es gibt halt Wichtigeres zu tun. So ein Pech aber auch! Doch gleichzeitig wundert man sich, warum die Menschen so unzufrieden sind - mit den Parteien, mit der Regierung, mit der EU und mit den Medien. Liegt es vielleicht daran, dass Beise und Piper zu den gutbezahlten Journalisten gehören, die sich um ihre eigene Rente keine Sorgen zu machen brauchen? Haben sie womöglich den Kontakt zur Lebensrealität der Bevölkerung verloren und schweben längst in höheren Sphären? Schließlich prägt das Sein das Bewusstsein (Karl Marx). Es scheint so. Die einen nennen es herablassend "soziale Wohltaten", für die anderen ist es Hilfe zur Beseitigung der Altersarmut und ein bisschen mehr Würde am Lebensabend. Sozialer Ausgleich ist obendrein für die Gesellschaft ein Wert, der sich letztlich auch in volkswirtschaftlichen Ergebnissen niederschlägt. Eine stabile Demokratie ist für das Gedeihen der Wirtschaft unverzichtbar, sozialer Ausgleich daher ökonomisch extrem vernünftig. Nicht die "sozialen Wohltaten" sind das Problem, sondern der neoliberale Wahn der Ökonomisierung sämtlicher Lebensbereiche, der schlussendlich die gesamte Gesellschaft destabilisiert. Aber ich wage zu behaupten, dass Neoliberale das nie begreifen werden.

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[1] Süddeutsche vom 10.02.2019
[2] Süddeutsche vom 13.02.2019
[3] Statistisches Bundesamt, Erwerbstätigenrechnung, Erwerbstätige in Deutschland Jahresdurchschnitte, Erwerbstätige mit Wohnort in Deutschland
[4] Süddeutsche vom 09.03.2019, Printausgabe, Seite 4
[5] Statistisches Bundesamt, Bruttoinlandsprodukt 2018 für Deutschland, Seite 17, PDF-Datei mit 814 kb
[6] Süddeutsche vom 21.02.2019, Printausgabe, Seite 15
[7] Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 047 vom 08.02.2019
[8] Deutsche Rentenversicherung, Wichtige Eckzahlen, ohne Waisenrenten, Stand 22.02.2019
[9] Deutsche Rentenversicherung, Rentenversicherung in Zahlen 2018, alte Bundesländer, Stand 31.12.2017, Seite 34 und 35, PDF-Datei mit 701 kb
[10] Statistisches Bundesamt, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, Wichtige Zusammenhänge im Überblick, Seite 13, PDF-Datei mit 504 kb
[11] Deutsche Bundesbank, Monatsbericht März 2016, Vermögen und Finanzen privater Haushalte in Deutschland: Ergebnisse der Vermögensbefragung 2014, Seite 67, PDF-Datei mit 252 kb