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23. März 2019, von Michael Schöfer
Es ist recht schwer, Europabegeisterung zu wecken


Der Nationalstaat ist etwas fürs Herz, da kann man beispielsweise im Fußballstadion mit Inbrunst die Nationalhymne brüllen. Europa dagegen ist etwas für den Verstand. Einmal davon abgesehen, dass es gar keine europäische Fußballnationalmannschaft gibt: Ob die Fans im Stadion je mit Inbrunst den letzten Satz der neunten Sinfonie Ludwig van Beethovens (Ode an die Freude) brüllen werden, wage ich zu bezweifeln. Erstens, weil die offizielle Hymne der EU ohnehin nur aus der Melodie besteht. Zweitens, weil der Text aus der Sicht von Fußballfans vielleicht ein bisschen zu sperrig daherkommt: "Freude, schöner Götterfunken; Tochter aus Elisium; wir betreten feuertrunken; Himmlische, dein Heiligthum…"

Wie dem auch sei, man muss die Menschen wieder für Europa begeistern, heißt es allenthalben. Doch wie? Brüssel wird ja von vielen als undurchschaubarer bürokratischer Moloch empfunden. Das Gefühlspotenzial ist da gleich null. Schon die Gesetze sind wenig herzerwärmend und für den Normalbürger noch viel weniger verständlich. Ein Beispiel: Derzeit wird landauf, landab heftig über die EU-Urheberrechtsverordnung gestritten. Greifen wir einmal Artikel 11 der "Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über das Urheberrecht im digitalen Binnenmarkt" heraus, darin geht es um den "Schutz von Presseveröffentlichungen im Hinblick auf digitale Nutzungen". [1] Einfache Frage: Darf man beim Bloggen noch zitieren?

1. Die Mitgliedstaaten legen Bestimmungen fest, mit denen Presseverlage die in Artikel 2 und Artikel 3 Absatz 2 der Richtlinie 2001/29/EG genannten Rechte für die digitale Nutzung ihrer Presseveröffentlichung erhalten.
2. Von den in Absatz 1 genannten Rechten bleiben die im Unionsrecht festgelegten Rechte von Urhebern und sonstigen Rechteinhabern an den in einer Presseveröffentlichung enthaltenen Werken und sonstigen Schutzgegenständen unberührt. Diese Rechte können nicht gegen diese Urheber und sonstigen Rechteinhaber geltend gemacht werden und können ihnen insbesondere nicht das Recht nehmen, ihre Werke und sonstigen Schutzgegenstände unabhängig von der Presseveröffentlichung zu verwenden, in der sie enthalten sind.
3. Die Artikel 5 bis 8 der Richtlinie 2001/29/EG und die Richtlinie 2012/28/EU finden sinngemäß auf die in Absatz 1 genannten Rechte Anwendung.
4. Die in Absatz 1 genannten Rechte erlöschen 20 Jahre nach der Veröffentlichung der Presseveröffentlichung. Die Berechnung dieser Zeitspanne erfolgt ab dem 1. Januar des auf den Tag der Veröffentlichung folgenden Jahres.

Nun, alles klar? Wissen Sie jetzt gleich auf Anhieb, was Sie tun dürfen oder zu lassen haben? Der sachkundige Bürger sieht natürlich sofort in der Richtlinie 2001/29/EG vom 22. Mai 2001 nach. Und dort steht unter "Ausnahmen und Beschränkungen" in Artikel 5 Abs. 3 Buchstabe d:

"Die Mitgliedstaaten können in den folgenden Fällen Ausnahmen oder Beschränkungen in Bezug auf die in den Artikeln 2 und 3 vorgesehenen Rechte vorsehen:
für Zitate zu Zwecken wie Kritik oder Rezensionen, sofern sie ein Werk oder einen sonstigen Schutzgegenstand betreffen, das bzw. der der Öffentlichkeit bereits rechtmäßig zugänglich gemacht wurde, sofern - außer in Fällen, in denen sich dies als unmöglich erweist - die Quelle, einschließlich des Namens des Urhebers, angegeben wird und sofern die Nutzung den anständigen Gepflogenheiten entspricht und in ihrem Umfang durch den besonderen Zweck gerechtfertigt ist."

Die Mitgliedstaaten können also… Aha. Der sachkundige Bürger landet anschließend beim deutschen Urheberrechtsgesetz. Nach der Lektüre von § 51 UrhG kann er einigermaßen sicher sein, als Blogger von Abmahnungen unbehelligt zu bleiben, denn dort steht:

Zulässig ist die Vervielfältigung, Verbreitung und öffentliche Wiedergabe eines veröffentlichten Werkes zum Zweck des Zitats, sofern die Nutzung in ihrem Umfang durch den besonderen Zweck gerechtfertigt ist. Zulässig ist dies insbesondere, wenn
1. einzelne Werke nach der Veröffentlichung in ein selbständiges wissenschaftliches Werk zur Erläuterung des Inhalts aufgenommen werden,
2. Stellen eines Werkes nach der Veröffentlichung in einem selbständigen Sprachwerk angeführt werden,
3. einzelne Stellen eines erschienenen Werkes der Musik in einem selbständigen Werk der Musik angeführt werden.
Von der Zitierbefugnis gemäß den Sätzen 1 und 2 umfasst ist die Nutzung einer Abbildung oder sonstigen Vervielfältigung des zitierten Werkes, auch wenn diese selbst durch ein Urheberrecht oder ein verwandtes Schutzrecht geschützt ist.

Die nationale Umsetzung der Richtlinie wird daran wohl nichts ändern. Wobei Kritiker der EU-Urheberrechtsverordnung behaupten, dass Blogger, die mit ihrem Blog Einnahmen erzielen, durchaus etwas zu befürchten hätten. Erlaubt sei nämlich bloß die rein private, nicht-kommerzielle Nutzung. Ganz schön kompliziert, nicht wahr? Und wenn ich jetzt noch mit Artikel 13 anfange, der Upload-Flilter zwar nicht explizit nennt, aber dennoch faktisch vorschreibt (von den diesbezüglichen Kapriolen der CDU ganz zu schweigen), steigen Sie gewiss aus. Sie können beruhigt sein, ich lasse es.

"Verständliche Gesetze statt Amtskauderwelsch", liest man auf der Website des Deutschen Bundestages. [2] Und der geneigte Bürger erfährt, dass im Hohen Haus sogar bereits seit 1966 ein "Redaktionsstab der Gesellschaft für deutsche Sprache" existiert. "Der Redaktionsstab prüft Gesetz- und Verordnungsentwürfe in der parlamentarischen Phase der Gesetzgebung auf sprachliche Richtigkeit und Verständlichkeit. Im Vordergrund steht dabei die einfache und klare Formulierung von Rechtstexten, wobei jedoch die Eigenheiten der Rechtssprache als Fachsprache berücksichtigt werden." [3] Ob er viel bewirkt hat? Das ist zu bezweifeln, denn Gesetzestexte sind im Allgemeinen nicht gerade für einfache und klare Formulierungen und somit für ihre Verständlichkeit bekannt. Im Gegenteil, das deutsche Steuerrecht etwa genießt den zweifelhaften Ruf, in puncto Unverständlichkeit eine grandiose Meisterleistung zu sein. Davon können Anwälte und Steuerberater seit jeher recht gut leben. Ob es in Brüssel einen Redaktionsstab gibt, entzieht sich meiner Kenntnis. Angesichts des oben genannten Beispiels ist das aber mehr als fraglich.

Es ist recht schwer, Europabegeisterung zu wecken. Vor allem, wenn man den Eindruck hat, die EU bediene hauptsächlich Partikularinteressen (im vorliegenden Fall die der Verleger) und stehe in erster Linie für soziale Kälte. Die Wahrheit ist jedoch wesentlich komplexer, denn als Gewerkschafter bin ich ganz froh, dass es die von der Tendenz her überwiegend arbeitnehmerfreundlichen Urteile des EuGH gibt. Der schlagende Beweis: Nicht genommener Urlaub ist vererbbar, urteilte der EuGH vor kurzem (Urteil vom 06.11.2018, C-569/16 und C-570/16), das Bundesarbeitsgericht musste daraufhin seine bisherige Rechtsprechung ändern. 2011 urteilte es noch: "Mit dem Tod des Arbeitnehmers erlischt der Urlaubsanspruch. Er wandelt sich nicht (...) in einen Abgeltungsanspruch um." [4] Nun heißt es: "Endet das Arbeitsverhältnis durch den Tod des Arbeitnehmers, haben dessen Erben (...) Anspruch auf Abgeltung des von dem Erblasser nicht genommenen Urlaubs." [5] Ohne Europa wären hierzulande die Erben wohl noch länger leer ausgegangen.

Das sollten Arbeitnehmer wissen, bevor sie den nationalistischen Rattenfängern, die den Rückbau der europäischen Justizbehörden fordern, Wahlstimmen schenken. Der "Rückbau" eines vermeintlichen Molochs ist eingängig und klingt gut, geht aber in die falsche Richtung. Wir brauchen mehr Europa, wir brauchen ein transparentes und demokratischeres Europa. Der Nationalstaat mag etwas fürs Herz sein, doch wenn man seinen Verstand einschaltet, ist die Europäische Union trotz ihrer unbestreitbaren Mängel ein Segen. Wer glaubt, durch den Rückzug auf den Nationalstaat würde alles wieder gut, schaue kurz in die Geschichtsbücher. Das kann nur behaupten, wer im Wolkenkuckucksheim lebt und dort gerne von Fliegenschissen faselt. Die Realität sah bekanntlich anders aus. Die EU ist die logische Konsequenz, die aus dem eklatanten Versagen der Nationalstaaten resultierte. Nicht perfekt, aber absolut notwendig.

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[3] Gesellschaft für deutsche Sprache, Redaktionsstab beim Deutschen Bundestag
[4] BAG, Pressemitteilung Nr. 72/11, Urteil vom 20.9.2011, 9 AZR 416/10
[5] BAG, Pressemitteilung Nr. 1/19, Urteil vom 22. Januar 2019, 9 AZR 45/16

Nachtrag (06.04.2019):
In der am 26. März 2019 vom Europäischen Parlament gebilligten Fassung steht nun in Artikel 15 (vormals Artikel 11): "Die in Unterabsatz 1 vorgesehenen Rechte [der Presseverlage, M.S.] gelten nicht für die private oder nicht-kommerzielle Nutzung von Presseveröffentlichungen durch einzelne Nutzer. Der nach Unterabsatz 1 gewährte Schutz gilt nicht für das Setzen von Hyperlinks. Die in Unterabsatz 1 vorgesehenen Rechte gelten nicht für die Nutzung einzelner Wörter oder sehr kurzer Auszüge aus einer Presseveröffentlichung." [6]

[6] Europäisches Parlament, EUR-Lex, PDF-Datei mit 390 kb