Home | Archiv | Leserbriefe | Impressum



29. März 2019, von Michael Schöfer
Der Brexit war lediglich der Blitzableiter


Nach der ursprünglichen Planung wäre Großbritannien heute Nacht aus der EU ausgetreten, doch das dilettantische Agieren der britischen Regierung von Theresa May und das chaotische Abstimmungsverhalten des Unterhauses haben das bislang verhindert. Noch immer ist unklar, ob, wann und wie der Brexit letztlich über die Bühne geht. Vom ungeregelten Brexit bis zur Annullierung des Austritts ist alles möglich.

In letzter Zeit wurde viel über die Lügen der Leaver und über mutmaßliche Manipulationen im Vorfeld des EU-Referendums gesprochen. Angeblich hätten rechte Kreise (Steve Bannon & Konsorten) und die Russen (via Arron Banks) heimlich, still und leise die Meinung der Briten beeinflusst. Es soll viel Geld aus dunklen Kanälen geflossen sein. Nicht zuletzt deshalb wird ein zweites Referendum gefordert. Allerdings hat man ein zweites Referendum bezeichnenderweise schon vor Beginn des ersten gefordert. Eine entsprechende Online-Petition wurde nämlich bereits am 25. Mai 2016 gestartet, also knapp einen Monat vor dem eigentlichen EU-Referendum am 23. Juni 2016. [1] Das lässt auf ein fragwürdiges Demokratieverständnis schließen.

Es ist schwer zu beurteilen, ob es wirklich Manipulationsversuche gab und in welchem Ausmaß diese das Ergebnis des Referendums beeinflusst haben. Worüber leider kaum noch gesprochen wird, sind die Gründe, weshalb sich am 23. Juni 2016 eine Mehrheit für den Brexit fand. Sicherlich nicht allein wegen den haltlosen Behauptungen von Boris Johnson. Die EU war in Großbritannien zuletzt nicht sonderlich beliebt, doch unabhängig davon kommt der Abstimmungserfolg der Leaver nicht von ungefähr. Eine Anti-EU-Stimmung lässt sich schließlich nicht aus dem Nichts erzeugen, man kann eine vorhandene allenfalls gezielt verstärken. Und genau das ist passiert.

Manipulationsvorwürfe und Lügen hin oder her - die wahren Gründe für große Entscheidungen zeigen sich manchmal im Kleinen: In Großbritannien werden momentan viele öffentliche Toiletten geschlossen. Grund ist die Finanznot der Kommunen. So wurde beispielsweise in der bei Touristen beliebten Grafschaft Cornwall die Anzahl der Bedürfnisanstalten von 247 auf 14 reduziert. "Dass Kämmerer die WCs jetzt dichtmachen, ist Symptom einer größeren Malaise. Seit der Finanzkrise hat die konservative Regierung die Zuschüsse an Kommunen zusammengestrichen. Zugleich steigen die Ausgaben für Altenpflege, für die die Gemeinden zuständig sind. Zahlreiche Kommunen stecken in Geldnot, manche stehen vor der Pleite. Sie lassen darum die Müllabfuhr seltener kommen, schließen Büchereien und eben Toiletten", schreibt die Süddeutsche. [2]

Prekäre Verhältnisse sind im Vereinigten Königreich keine Seltenheit, nach Angaben von Eurostat waren in Großbritannien im Jahr des EU-Referendums 22,2 Prozent der Bevölkerung von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht (2013: 24,8 %, 2014: 24,1 %, 2015: 23,5 %). [3] Fast ein Viertel der Bevölkerung, immerhin 14,4 Mio. Menschen. Zudem werden die Bürger in der britischen Hauptstadt London tagtäglich mit dem geradezu obszönen Reichtum des Establishments konfrontiert, Wohnungen sind dort für Durchschnittsverdiener seit langem unbezahlbar. Abgesehen davon, wer nun tatsächlich dafür verantwortlich ist, die britische Regierung oder die EU, kann es nicht sein, dass darin die wahre Ursache des Brexit liegt? Dass man beim Brexit nur die Reaktion auf den Turbokapitalismus, sprich die verständliche Wut der Bürger zu spüren bekommen hat? Vielleicht haben die Menschen davon einfach die Nase gestrichen voll, und der Brexit war lediglich der Blitzableiter.

Falls die Briten wider Erwarten in der EU bleiben sollten: Was würde sich daran ändern? Dem Brexit mag eine Illusion von Souveränität zugrundeliegen, die es in der globalisierten Welt für ein einzelnes Land so nicht mehr geben kann. Jedenfalls nicht für eine Mittelmacht wie Großbritannien. Es ist aber bestimmt genauso illusionär, man könnte die sozialen Belange der Bevölkerung weiterhin so übergehen, wie man das in der Vergangenheit getan hat. Der Turbokapitalismus zerreißt doch nicht bloß in Großbritannien die Gesellschaft. Gewiss, es wäre für alle Beteiligten besser, das Land bliebe Mitglied der EU. Aber dann muss sich diese EU verdammt nochmal auch grundlegend reformieren.

----------

[1] UK Government and Parliament, EU Referendum Rules triggering a 2nd EU Referendum
[2] Süddeutsche vom 29.03.2019
[3] Eurostat, Von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohte Bevölkerung nach Alter und Geschlecht