Home | Archiv | Leserbriefe | Impressum



16. April 2019, von Michael Schöfer
Es geschehen noch Zeichen und Wunder


Politiker im Allgemeinen und Sozialdemokraten im Besonderen könnten nicht mit Geld umgehen, hieß es jahrelang. Deshalb hat man vor zehn Jahren das Ei des Kolumbus ins Grundgesetz aufgenommen: die Schuldenbremse. "Eine effektive Schuldenregel muss jetzt auf den Weg gebracht werden und darf nicht auf die nächste Legislaturperiode verschoben werden", forderten beispielsweise der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) Anfang 2009. [1] Die Schuldenbremse wurde dem Volk als heiliger Gral der ökonomischen Vernunft verkauft. Und die Politik, gedrängt vom geballten Sachverstand der Wirtschaftswissenschaftler, gehorchte.

Seitdem hat die Schuldenbremse Verfassungsrang. Wer sich weiterhin für eine staatliche Schuldenaufnahme aussprach, etwa um den Investitionsstau aufzulösen und die Wirtschaft anzukurbeln, wurde nunmehr so schief angesehen wie ein notorischer Kettenraucher. Die können halt nicht anders, die lernen eben nie dazu. Mit einem Wort: unbelehrbar. Gemeint waren Linke, Gewerkschafter und alternative Ökonomen. Selbst in Zeiten, in denen der Finanzminister dank Negativzinsen für die Schuldenaufnahme sogar Geld geschenkt bekam, der Staat sich folglich mit neuen Schulden langfristig elegant hätte entschulden können, ließ man die Gelegenheit nutzlos verstreichen. Rational war das nicht erklärbar, aber so waren damals die Zeiten.

Stimmt, Sie haben richtig gelesen: "damals" und "waren". Neuerdings hat sich das nämlich zum großen Erstaunen des geneigten Publikums geändert. Die Schuldenbremse sei nicht mehr zeitgemäß, liest man jetzt: "Ist das nicht prima, wenn der Staat kaum noch Schulden hat? So einfach ist es leider nicht. Denn gleichzeitig haben sich gravierende Mängel bei öffentlichen Gütern aufgetan: marode Schulen, Straßen und Brücken; ein unterfinanzierter Bildungssektor; langsames und unzuverlässiges Internet; eine Bundeswehr im beklagenswerten Zustand. Die Liste ließe sich fortsetzen. Diese Defizite haben sich mittlerweile zur zentralen Bremse für private Investitionen entwickelt und sind zum Signum staatlicher Handlungsunfähigkeit geworden. Wenn Firmen keinen Zugang zu guter Infrastruktur und ausgebildeten Fachkräften haben, dann halten sie sich mit Investitionen zurück und legen das Geld lieber im Ausland an. So entstehen aber keine neuen Innovationen und Arbeitsplätze."

Nein, liebe Leserinnen und Leser, das ist kein Auszug aus dem neuen Buch von Sahra Wagenknecht. Großes Indianer-Ehrenwort! Das schreibt vielmehr Michael Hüther vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. Die Chance auszulassen, sich zu Negativzinsen zu verschulden, den Gläubigern also in zehn Jahren für jeden Euro real bloß 90 Cent zurückzuzahlen, sei laut Hüther so, "als ob der Staat Geldscheine auf dem Bürgersteig liegen lässt, statt sie aufzuheben". [2]

Ei der Daus, was ist denn da passiert? Michael Hüther wird doch hoffentlich nicht den Bundesfinanzminister (einen Sozi) aufs Glatteis führen wollen, um ihm anschließend demonstrativ die Schuldenaufnahme um die Ohren zu hauen? Das wäre perfide. Sein Sinneswandel ist erstaunlich. Wird er nun mit der berühmt-berüchtigten "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" Probleme bekommen? Schließlich taucht Hüther auf deren "ÖkonomenBlog (Die Stimme der ökonomischen Vernunft)" als Verfasser zahlreicher Artikel auf. Oder beginnt sich womöglich mit einem Mal die wahre ökonomische Vernunft durchzusetzen? Wie auch immer, jedenfalls fordert Hüther heute genau das, was Ökonomen jenseits des neoliberalen Mainstreams seit langem sagen, wofür sie jedoch in der Vergangenheit stets belächelt oder angefeindet wurden. Es geschehen offenbar wirklich noch Zeichen und Wunder.

----------

[1] Pressebox.de vom 04.02.2009
[2] Süddeutsche vom 14.04.2019