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19. April 2019, von Michael Schöfer
Beim Homo sapiens ist alles viel zu viel


Wir sind zu viele und an manchen Orten tauchen zu viele von uns auf. Auf Mallorca verlangen die Behörden neuerdings eine Touristensteuer, weil der Massentourismus einfach überhandnimmt. Die Insel mit 1,13 Mio. Einwohnern wurde 2017 von 10,3 Mio. Touristen besucht. Venedig wird künftig von Tagesbesuchern Eintritt verlangen, die Lagunenstadt wird pro Jahr von 1,42 Mio. Kreuzfahrtpassagieren angesteuert (und von 30 Mio. Touristen insgesamt). Zum Vergleich: Das beliebte Reiseziel hat lediglich 261.000 Einwohner. Einsame Buchten oder Strände sind längst nicht mehr einsam, weil sich dort gleichzeitig etliche Tausend Touristen herumdrücken. Die aus dem Film "The Beach" bekannte thailändische Maya-Bucht mit dem berühmten Traumstrand musste sogar gesperrt werden, bis zu 5.000 Touristen pro Tag haben das Ökosystem zu stark in Mitleidenschaft gezogen. Jeder sucht Einsamkeit und unberührte Natur, bekommt dafür jedoch reichlich Touristentrubel und jede Menge Plastikmüll geboten. Den eigenen Plastikmüll, wohlgemerkt. Und jeder Tourist ist ein Teil des Trubels - so wie jeder Autofahrer ein Teil des Staus ist. Vor 15 Jahren waren die indonesischen Gili-Inseln (3.600 Einwohner) noch ein Geheimtipp, nun werden sie jährlich von mehr als 1 Mio. Touristen überflutet. Es gibt inzwischen auf diesem Planeten kein unberührtes Fleckchen Natur mehr, bestenfalls die Illusion davon.

Auch im Weltraum wird es mittlerweile eng. Nach Angaben der Europäischen Weltraumbehörde schwirren im Erdorbit bis zu 900.000 murmelgroße Trümmerstücke umher, rund 34.000 Objekte sind größer als zehn Zentimeter (dem stehen allerdings nur 1.900 aktive Satelliten gegenüber = der Weltraumschrott von morgen). Bei Geschwindigkeiten von 20.000 bis 30.000 km/h verfügen selbst kleinste Trümmerteile über ein enormes Zerstörungspotenzial. Und jede Kollision erzeugt weiteren Weltraumschrott, der wiederum die Anzahl der Kollisionen erhöht. Ein sich selbst verstärkender Vorgang. Wenn man dann liest, dass Amazon mehr als 3.000 Satelliten und SpaceX sogar fast 12.000 Satelliten in eine Erdumlaufbahn schießen wollen, stellt sich unweigerlich die naheliegende Frage, ob sich die Menschheit dadurch nicht selbst auf der Erde einsperrt. Wird nämlich durch die bereits absehbaren Kollisionen die Anzahl der mit hoher Geschwindigkeit um die Erde rasenden Trümmerteile drastisch erhöht, könnte die ohnehin risikobehaftete Raumfahrt künftig womöglich zum unkalkulierbaren Risiko mutieren. Raumstationen wie die ISS müssten vielleicht aufgegeben werden, bemannte Raketenstarts irgendwann rein prophylaktisch unterbleiben. Weltraumschrott ist recht langlebig, bei Bahnen von über 800 km Höhe dauert es Jahrhunderte oder mitunter Jahrtausende, bis er so weit abgesunken ist, um in der Erdatmosphäre zu verglühen.

Der Homo sapiens emittiert zu viele Treibhausgase, verbraucht zu viele Ressourcen und rottet zu viele Tierarten aus. Alles bei ihm ist viel zu viel. Außerdem bereichert er sich oft rücksichtslos an seinesgleichen. Von den grausam geführten Kriegen ganz zu schweigen. Homo homini lupus (der Mensch ist dem Menschen ein Wolf). Genau besehen ist es der totale Wahnsinn. "Die Gegenwart sieht so aus, grob zusammengefasst: Wenn die Menschen auf der Erde so weitermachen wie bisher, werden sie sich selbst ausrotten. Die Frage ist bloß, ob das Ende des 21. Jahrhunderts stattfindet oder erst im 22. Jahrhundert", schreibt Franziska Augstein in der Süddeutschen mit Blick auf das Buch von Harald Lesch und Klaus Kamphausen ("Wenn nicht jetzt, wann dann?"). [1] Man würde ihr gerne widersprechen. Aber wenn man sich die Fakten ansieht, fällt das ungemein schwer.

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[1] Süddeutsche vom 17.04.2019