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19. April 2019, von Michael Schöfer
Das Gegenteil der "Kambrischen Explosion"


Vielleicht ist Ihnen der Begriff "Kambrische Explosion" bekannt. Falls nicht: Das war vor etwa 541 Mio. Jahren ein vergleichsweise kurzer Zeitraum, in dem die Artenvielfalt auf der Erde buchstäblich explodiert ist. Und das nicht bloß quantitativ, sondern vor allem qualitativ. Im Vergleich dazu ist die Politik Angela Merkels geradezu statisch, da explodiert überhaupt nichts. Nehmen wir zum Beispiel den Wohnungsbau. Merkel ist bekanntlich seit dem 22. November 2005 Bundeskanzlerin. Wenn wir das erste Amtsjahr außer Acht lassen, die Amtsübernahme war schließlich jeweils erst im Herbst, wurden in den fünf Jahren unter Willy Brandt (1970-1974) insgesamt 3,01 Mio. Wohnungen gebaut, in den zwölf Jahren unter Angela Merkel (2006-2017) jedoch lediglich 2,61 Mio. (die Daten für 2018 liegen noch nicht vor). [1] Hinzuzufügen wäre: Die Zahl bei Brandt gilt nur für Westdeutschland, die bei Merkel indes für Gesamtdeutschland.

Die Wohnraumoffensive für 1,5 Mio. neue Wohnungen und Eigenheime sei gestartet, verkündet Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) frohgemut. Nur sollten die schon 2021 fertig sein. Wie die Regierung das bis dahin schaffen will, übergeht er geflissentlich. Was die Kritik angeht, es entstünden zu viele Luxuswohnungen, es werde daher am Bedarf vorbei gebaut, reagiert er geradezu rührend naiv: "Wenn einer aus einer Mittelstandswohnung in eine Luxusimmobilie umzieht, dann wird zugleich die Mittelstandswohnung frei." Weil sich derzeit so viele Mittelschichtfamilien Luxuswohnungen erlauben können, etwa in München oder Frankfurt, wird die Wohnraumoffensive bestimmt ein Renner. (Achtung: Ironie!) Sein Faible fürs Soziale ist trotzdem unverkennbar: "Andererseits dürfen wir die wirklich Schwachen nicht aus dem Auge verlieren", gibt Altmaier zu bedenken. [2]

Nun, die sozial Schwachen kann ich auch noch im Auge behalten, wenn ich ihrem Zug ins wohnungspolitische Abseits vom Bahnsteig aus mit dem Taschentuch zuwinke. Genau das ist nämlich Altmaiers zynische Haltung: 2006 gab es noch 2,1 Mio. Sozialwohnungen [3], 2017 waren es bloß 1,2 Mio. [4] Tendenz: stark fallend. 2017 sind lediglich 26.231 neue Sozialwohnungen entstanden, es wären jedoch pro Jahr mindestens 80.000 nötig. Und die Regierung glänzt durch Tatenlosigkeit. Der Bundeswirtschaftsminister wird den sozial Schwachen also noch lange vom Bahnsteig aus zuwinken. Sie werden es ihm hoffentlich danken. Und natürlich dem eigentlich für den Wohnungsbau zuständigen Minister: Horst Seehofer (CSU). Wie bitte? Das wussten Sie gar nicht? Doch, doch, der Wohnungsbau fällt in sein Ressort. Nur bastelt er halt lieber an aus staatsbürgerlicher Sicht höchst fragwürdigen Gesetzen herum, anstatt sich ordentlich um den Wohnungsbau zu kümmern.

Das Gegenteil der "Kambrischen Explosion" (Tatenlosigkeit) trifft auch auf die Klimapolitik der Bundesregierung zu. Bleiben wir der Einfachheit halber bei Altmaier: Einerseits lehnt er verschärfte Klimaziele für die EU ab. Sein Standpunkt: Bevor man sich neue Ziele setzt, sollte man zuerst die bereits gesetzten einhalten. Andererseits schlägt sein eigenes Ministerium gerade hier Alarm: "Nach einem Bericht aus dem Wirtschaftsministerium sind die von der Regierung selbstgesteckten Klima-Ziele in akuter Gefahr - wenn nicht massiv gegengesteuert wird. Das Wirtschaftsministerium geht davon aus, dass vor allem der Verkehrssektor die Vorgaben 'deutlich verfehlt'. Statt einer Verringerung des Energieverbrauchs auf deutschen Straßen bis 2020 wird eine Erhöhung (...) um mehr als fünf Prozent erwartet." [5]

Doch der Stellvertreter der Autoindustrie auf Erden, Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU), hält nichts von Verboten, Tempolimits oder dem Verteuern von Mobilität. "Ich komme nicht über die Ecke Verbote, Einschränkungen und Verteuerungen. Ich komme über die Ecke Anreize, Begeisterung, neugierig machen, Förderung, Innovation." [6] Ein Tempolimit auf Autobahnen und höhere Dieselsteuern seien "gegen jeden Menschenverstand", behauptet Scheuer. [7] Vor kurzem hat er vorgeschlagen, für Bahntickets generell nur noch 7 Prozent Mehrwertsteuer zu verlangen. Heute wird im Fernverkehr ein Mehrwertsteuersatz von 19 Prozent erhoben. Eine Studie, die das Bundesverkehrsministerium selbst in Auftrag gegeben hat, kommt freilich zu folgendem Ergebnis: "Sollte die Mehrwertsteuer komplett gestrichen und weitere Entlastungen wie eine Halbierung der Trassenpreise umgesetzt werden, könnten lediglich gut 500.000 Tonnen Treibhausgas eingespart werden. (…) Dies wäre nur ein Prozent der Menge, die der Verkehrssektor mit zusätzlichen Instrumenten bis 2030 laut Klimaschutzplan der Regierung einsparen muss - und weniger als bei einem generellen Tempolimit." [8]

CDU und CSU sind die Dagegen-Parteien: Gegen anspruchsvollere Klimaziele, gegen wirksame Maßnahmen zu deren Umsetzung, gegen eine Verschärfung der Mietpreisbremse, gegen die Enteignung von Wohnungsunternehmen, gegen Konjunkturprogramme, gegen eine europaweite Digitalsteuer. Gegen, gegen, gegen… Schließlich ist die neue CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer auch gegen die europapolitischen Vorschläge des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Nichts von "Kambrischer Explosion". Gar nichts. Stattdessen Stagnation, das Land steht still. Selbst Mainstream-Ökonomen beklagen mittlerweile marode Schulen, Straßen und Brücken, den unterfinanzierten Bildungssektor sowie ein langsames und unzuverlässiges Internet. [9] Diese Verweigerungshaltung müsste sogar den Bauern in Bayern zu denken geben, dort droht nämlich schon die nächste Dürre. "Die Trockenheit ist überall in Bayern recht dramatisch", beklagt der Bayerische Bauernverband. "Nach dem trockenen Sommer 2018 geht bei den Bauern längst die Angst um, dass sich das lange Ausbleiben des Regens wiederholen könnte. (…) In Unterfranken ist die Lage besonders heikel. Nach dem Trockenjahr 2018 wurden die Grundwasservorräte im Winter nicht aufgefüllt." [10]

Man darf gespannt sein, wie lange es dauert, bis der Bayerische Bauernverband darauf kommt, dass die Klimaerwärmung vielleicht doch etwas mit der zögerlichen Haltung des Bundesverkehrsministers Andreas Scheuer zu tun haben könnte. Womöglich hat die schützende Hand, die der CSU-Minister über die Autoindustrie hält, wirklich ein paar Nachteile. Auf den Feldern Bayerns beispielsweise. Himmel-Herrgott-Sakrament-Kruzifix-Halleluja-verdammt-nochamoi, da könnt' was dran sein. Die globale Durchschnittstemperatur der ersten drei Monate lässt den Schluss zu, dass 2019 das drittwärmste Jahr seit dem Beginn der Wetteraufzeichnungen im Jahr 1880 werden könnte. Bislang waren jedenfalls im ersten Quartal nur die mit dem periodisch auftretenden El Niño-Effekt belasteten Jahre 2016 und 2017 wärmer. [11] Scheuer hat übrigens bei der Bundestagswahl 2017 seinen Wahlkreis (Passau) mit 47,5 Prozent klar gewonnen, aber dabei muss es ja nicht bis in alle Ewigkeit bleiben. Kleiner Tipp für den Bayerischen Bauernverband: Jetzt bloß nicht AfD wählen, denn die hält die vertrockneten Felder für einen Teil der, wie sie sagt, "irrationalen Klimahysterie". Der Parteivorsitzende Alexander Gauland warnt: "Die Klimahysterie bedroht unseren Wohlstand." Die Klimahysterie, wohlgemerkt, nicht die Folgen der Erderwärmung. Fakten? Messdaten? Unerheblich! Da bleibt einem buchstäblich die Schweinshaxe im Halse stecken, gell?

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[1] Statistisches Bundesamt, Baugenehmigungen, Baufertigstellungen - Lange Reihen bis 2017, Excel-Datei mit 240 kb
[2] ntv vom 09.04.2019
[3] Statista vom 10.01.2018
[4] Süddeutsche vom 04.08.2018
[5] Der Tagesspiegel vom 18.04.2019
[6] tagesschau.de vom 24.03.2019
[7] Die Welt-Online vom 19.01.2019
[8] Das Handelsblatt vom 18.04.2019
[9] siehe Es geschehen noch Zeichen und Wunder vom 16.04.2019
[10] Süddeutsche vom 17.04.2019
[11] NASA Goddard Institute for Space Studies (GISS), Global Land-Ocean Temperature Index